Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung. Aktiv-Spezifische-Immuntherapie. Systemversagen. Verbreitung der Therapie. arzneimittelrechtliche Zulassung
Leitsatz (amtlich)
1. Das Fehlen einer Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur ASI-Therapie stellt ein Systemversagen der gesetzlichen Krankenversicherung iS des Urteils des BSG vom 16.9.1997 - 1 RK 28/95 = BSGE 81, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 dar.
2. Die ASI-Therapie ist in der Praxis und in der fachlichen Diskussion verbreitet iS des Urteils des BSG vom 16.9.1997 - 1 RK 28/95 aaO.
Orientierungssatz
Eine arzneimittelrechtliche Zulassung ist für die bei der ASI-Therapie eingesetzte Tumorvakzine nicht erforderlich.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Kostenerstattung iHv 12.420,00 DM für ihre Behandlung mit der aktiv-spezifischen Immuntherapie (ASI-Therapie), bei der ein Impfstoff aus inaktivierten patienteneigenen Tumorzellen hergestellt und dem Patienten eingeimpft wird.
Die 1944 geborene Klägerin erkrankte an einem progredient verlaufenden intra-abdominell metastisierenden Siegelring-Karzinom des Magens und an einem Ovarial-Karzinom. Primär wurde eine ausgedehnte Lebermetastasierung, eine Infiltration der Milzvene und der Befall der Milz diagnostiziert. Die Klägerin befand sich deshalb mit Unterbrechungen in der Zeit vom 01. März bis 27. Mai 1994 zur Operation und stationären Behandlung im St.-Martini-Krankenhaus D. Die eingeleitete zytostatische Kombinationstherapie mit gängigem Schema musste wegen Progression während der ersten drei Zyklen abgebrochen werden. Vom 07. bis 26. Juni 1994 wurde im Klinikum Aschaffenburg eine erneute Laparatomie mit höchster Ektomie, Adnexektomie beiderseits sowie paraortaler u pelvinaler Lymphonodektomie und Omendektomie durchgeführt.
Am 11. Juli 1994 stellte die Klägerin bei der Beklagten den Antrag auf Kostenübernahme für die geplante ASI-Therapie und bat um baldigen positiven Bescheid, um den Therapiebeginn nicht unnötig zu verzögern. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des behandelnden Frauenarztes D ein. D ist außerdem Dipl-Biologe und Geschäftsführer des Institutes für Tumorimmunologie GmbH, D, das für die Behandlung mit der ASI-Therapie Vakzine aus patienteneigenen Tumorzellen herstellt. D teilte am 22. Juli 1994 mit, bislang seien eine (abgebrochene) zytostatische Behandlung und eine Tumorreduktion durchgeführt worden. Er bat nochmals um zügige Bearbeitung und führte die ASI-Therapie mit sieben Zyklen durch. Im November 1994 wurde eine erneute Progression der Lebermetastasen festgestellt. Daraufhin unterzog sich die Klägerin nochmals einer zytostatischen Behandlung über sechs Zyklen, die jedoch in Folge weiterer Progression ebenfalls abgebrochen werden musste.
Am 16. September 1995 verstarb die Klägerin an einer Magenblutung.
Ihren Antrag vom 11. Juli 1994 lehnte die Beklagte nach Einholung des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN), des Arztes für Innere Medizin B, vom 29. August 1994 mit Bescheid vom 14. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1994 ab: Die ASI-Therapie entspreche nicht dem allgemeinen Stand der medizinischen Kenntnisse. Gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit dieser Methode lägen nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 27. Dezember 1994 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Die Beklagte hat ua das Gutachten des MDKN, Arzt für Innere Medizin B, vom 10. Februar 1995 und der pharmazeutischen Beratungsstelle, Dr R, vom 21. Februar 1995 sowie die Gutachten des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg, Prof Dr M, vom 10. Mai 1995 und des Johannes-Gutenberg-Universitäts-Klinikums, Abteilung Hämatologie, Prof Dr H, vom 06. Oktober 1994 zu den Akten gereicht. Das SG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27. September 1995 den Frauenarzt D als Zeugen vernommen.
Mit Urteil vom selben Tag hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 14. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1994 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die ASI-Therapie iHv 12.420,00 DM zzgl 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das SG insbesondere ausgeführt: Die Beklagte habe die Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt. Denn der Anspruch der Versicherten auf Krankenbehandlung schließe auch besondere Therapierichtungen ein. Auch Behandlungsmethoden, die -- wie die ASI-Therapie -- vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen noch nicht empfohlen seien, könnten ausnahmsweise anzuwenden sein. Eine Behandlungsmethode gehöre dann zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Erprobung abgeschlossen sei und über Qualität und Wirkungsweise zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden könnten. Zur Sicherstellung des Qualitätsstandards genüge eine Plausibilitätskontrolle, weil bei akut lebensbedrohenden Erkrankungen wie im Falle der Klägerin ein geringerer Qualitätsstandard angesetzt werden müss...