Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsanwaltsvergütung. Verfahrensgebühr. Bestimmung der angemessenen Gebührenhöhe. Streitigkeiten in SGB 2-Angelegenheiten. überdurchschnittliche Bedeutung
Orientierungssatz
Streitigkeiten über Leistungen, die das soziokulturelle Existenzminimum sichern, wie die Streitigkeiten über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB 2, sind in der Regel eine überdurchschnittliche Bedeutung beizumessen, unabhängig davon, ob die Leistung dem Grunde nach oder die Höhe der Leistung umstritten ist (vgl BSG vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R = BSGE 104, 30 = SozR 4-1935 § 14 Nr 2).
Tenor
Auf die Beschwerde des Erinnerungsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.02.2021 geändert.
Die Vergütung der Erinnerungsführerin aus der Staatskasse wird auf 727,20 € festgesetzt.
Gründe
Der Senat entscheidet durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin (§ 1 Abs. 3, 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 RVG), da die Sache keine besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtsache keine grundsätzliche Bedeutung hat.
Die Beschwerde gegen die Festsetzung der Rechtsanwaltsvergütung ist nach §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 Satz 1 RVG statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 € und die Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG ist gewahrt. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die Beschwerde ist begründet.
Die Vergütung der Erinnerungsführerin aus der Staatskasse wird auf 727,20 € festgesetzt.
1. Der Ansatz einer Verfahrensgebühr von 300,00 € durch die Erinnerungsführerin ist auch unter Berücksichtigung der Toleranzgrenze unbillig. Bei der Bestimmung der Betragsrahmengebühr ist von der Mittelgebühr auszugehen, die bei einem Normal-/Durchschnittsfall als billige Gebühr zu Grunde zu legen ist. Unter einem "Normalfall" ist ein Fall zu verstehen, in dem sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts unter Beachtung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt aller sozialrechtlichen Fälle abhebt (BSG, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R). Ob ein Durchschnittsfall vorliegt, ergibt sich aus dem Vergleich mit den sonstigen bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängigen Streitsachen. Die Mittelgebühr beträgt im vorliegenden Fall bei zwei Auftraggebern Nach Nr. 3102, 1008 VV RVG 390,000 €. Bei Abweichungen von einem Durchschnittsfall kann der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG eine geringere oder höhere Gebühr bis zur Grenze des vorgegebenen Rahmens ansetzen. Hinsichtlich der Überprüfung der Billigkeit einer Gebühr billigt die Rechtsprechung dem Rechtsanwalt einen Toleranzrahmen von bis zu 20 % zu (BSG, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R m.w.N.). Die in § 14 Abs. 1 RVG aufgezählten fünf Bemessungskriterien stehen selbstständig und gleichwertig nebeneinander. Sämtliche Kriterien sind geeignet, ein Abweichen von der Mittelgebühr nach oben oder unten zu begründen. Zudem kann das Abweichen eines Bemessungskriteriums von jedem anderen Bemessungskriterium kompensiert werden (BSG, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R).
Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im Klageverfahren ist als unterdurchschnittlich zu bewerten. Bei der Beurteilung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit ist der Arbeits- und Zeitaufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieben hat und den er objektiv auch auf die Sache verwenden musste, zu würdigen. Mit der Verfahrensgebühr in Klageverfahren vor dem Sozialgericht wird der Aufwand für Besprechung und Beratung des Mandanten, das Anfordern und die Sichtung von beigezogenen und eingeholten Unterlagen, die Rechtsprechungs- und Literaturrecherche, der Schriftverkehr mit dem Mandanten und dem Gericht, Besprechungen mit dem Mandanten sowie alle Tätigkeiten, für die mangels entsprechender Gebührenvorschriften nicht eine besondere Gebühr angesetzt werden kann, vergütet. Durchschnittlich umfangreich ist eine anwaltlichen Tätigkeit im sozialgerichtlichen Verfahren, bei der die Klage erhoben, Akteneinsicht genommen, die Klage begründet und zu den Ermittlungen des Gerichts Stellung genommen wird (Beschluss des Senats vom 02.20.2018 - L 19 AS 1472/17 B; LSG Thüringen, Beschluss vom 09.02.2016 - L 6 SF 25/15 B). Die Zahl der gefertigten Schriftsätze, einschließlich ihres Inhalts, kann ein Indiz für den zeitlichen Aufwand der anwaltlichen Tätigkeit darstellen (BSG, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R).
Die Erinnerungsführerin hat eine knapp 2 seitige Klageschrift mit Klagebegründung, welcher der angefochtene Widerspruchsbescheid sowie der Prozesskostenhilfeantrag beigefügt gewesen sind, gefertigt. Neben der Vorbereitung auf einen gerichtlichen Termin, einschließlich von zwei Besprechungen mit der Klägerin, in denen die vom Beklagten übersandten Auszüge aus der Verwaltungsakte besprochen und der Erörterungstermin vorbereitet worden ist, sind keine weitere zeitintensive Tätigkeiten - wie etwa Akte...