Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. erwerbsfähiger Unionsbürger. Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2. Freizügigkeitsbescheinigung. Bleiberecht. Sozialhilfe für Ausländer

 

Leitsatz (amtlich)

Staatsangehörige aus den neuen Mitgliedstaaten der EU, die über eine Freizügigkeitsbescheinigung verfügen, können Leistungen nach § 23 SGB 12 beantragen.

 

Orientierungssatz

1. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sind von den Leistungen nach dem SGB 2 ausgenommen.

2. Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, haben Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB 12. Mit der Neuregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 haben seit 1. 4. 2006 Unionsbürger, die sich zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, keinen Leistungsanspruch nach dem SGB 2 dem Grunde nach; deshalb greift der Leistungsausschluss des § 21 Abs. 1 SGB 12 nicht.

3. Nach der Rechtsprechung des EuGH erlangen nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht nur ein Bleiberecht, sondern auch Teilhabeansprüche hinsichtlich der staatlichen Sozialleistungssysteme. Diese können durch nationales Recht eingeschränkt werden, wenn die Einreise in der Absicht erfolgt, Sozialhilfe zu erlangen.

4. Solange der Ausländer eine gültige Freizügigkeitsberechtigung besitzt, ist das Gericht an der Prüfung gehindert, ob er sich zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhält. Nur dann, wenn ihm die Einreise zum Zweck der Erlangung von Sozialhilfe nachgewiesen werden kann, greift der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 SGB 12.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 02.08.2006 geändert. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen nach Maßgabe des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) ab Antragstellung am 06.07.2006 bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung zu gewähren. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge.

 

Gründe

I.

Die am 00.00.1980 geborene Antragstellerin zu 1) sowie ihr am 00.00.1997 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2), sind polnische Staatsangehörige. Sie begehren die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von der Antragsgegnerin oder nach dem SGB XII von der Beigeladenen.

Nach ihrer Einreise nach Deutschland lebten die Antragsteller zunächst beim damaligen Lebensgefährten der Antragstellerin zu 1) in E. Für die Antragstellerin zu 1) liegt eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) als Zweitschrift vom 13.06.2005, für den Antragsteller zu 2) eine entsprechende Bescheinigung vom 12.10.2005, jeweils ausgestellt durch die Beigeladene, vor.

Nachdem aufgrund des früheren Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes SG Duisburg S 32 AS 156/05 ER die Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2005 bis 31.03.2006 geleistet hatte, beantragten die Antragsteller am 06.07.2006 beim Sozialgericht erneut, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu verpflichten.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 07.02.2006 die Stadt E zum Verfahren nach § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, sie sei nach der Gesetzesänderung in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ab dem 01.04.2006 nicht mehr zu Leistungen verpflichtet. Unter Umständen bestehe allerdings eine Leistungspflicht der Beigeladenen aus § 23 SGB XII.

Die Beigeladene hat sich nicht für verpflichtet gehalten, Leistungen nach dem SGB XII an die Antragsteller zu erbringen. Denn nach § 21 S. 1 SGB XII erhielten Personen, die als Erwerbsfähige oder deren Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II seien, keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII. Die Antragstellerin zu 1) sei als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und nur aufgrund der Sonderregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. § 21 S. 1 SGB XII verfolge gerade den Zweck, im SGB II geregelte Leistungsbeschränkungen bzw. Leistungsausschlüsse nicht über das SGB XII faktisch aufzuheben.

Mit Beschluss vom 02.08.2006 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Ab dem 01.04.2006 bestehe kein Anspruch der Antragsteller auf Leistungen nach dem SGB II. Denn nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II seien Ausländer von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, ferner ihre Familienangehörigen. Die Vorschrift sei auch gemeinschaftsrechtskonform. Durch Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29.04.2004 (EU-Freizügigkeitsrichtlinie) werde der Gleichheitsgrundsatz dahingehend eingeschränkt, dass ein Aufnahmemitgliedst...

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