Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch des an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Versicherten auf Versorgung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel durch die Krankenkasse
Orientierungssatz
1. Leidet der Versicherte an einem bösartigen Hirntumor, der innerhalb kürzester Zeit massiv wachsen und zu allen denkbaren neurologischen und kognitiven Defiziten führen kann, so liegt eine notstandsähnliche Situation i. S. von § 2 Abs. 1a SGB 5 vor.
2. Liegen hinreichende Indizien für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf i. S. von § 2 Abs. 1a S. 1 SGB 5 vor, so ist der Krankenversicherungsträger im Rahmen der Folgenabwägung verpflichtet, den Versicherten mit dem Arzneimittel Bevacizumab (Avastin) zu versorgen, wenn keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen mehr bestehen.
3. Die vom BVerfG in dessen Beschluss vom 6. 12. 2005, 1 BvR 347/98 aus dem Grundrechtsschutz des Einzelnen abgeleiteten Vorgaben zum Einsatz neuer Behandlungsmethoden bei lebensbedrohlichen Erkrankungen sind in § 2 Abs. 1a SGB 5 ohne Veränderungen kodifiziert worden. Sobald eine ultima-ratio-Situation gegeben ist, besteht ein verfassungsunmittelbarer Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber der Krankenkasse.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird:
"Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache sechs Gaben des Arzneimittels Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastomsrezidivs nach jeweiliger ärztlicher Verordnung als Sachleistung zu gewähren."
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
Im Streit steht die Übernahme der Kosten für die Behandlung der an einem Glioblastom leidenden Antragstellerin mit dem Arzneimittel Avastin (Bevacizumab).
Die am 00.00.1983 geborene Antragstellerin befindet sich seit dem 26.04.2020 wegen eines Glioblastoms in Behandlung der Klinischen Neuroonkologie des Klinikums Essen. Es handelt sich um ein Rezidiv mit Vorbehandlung durch Operation, Radiotherapie und Chemotherapie.
Unter dem 31.03.2021 beantragte die Antragstellerin, vertreten durch das Klinikum Essen, die Kostenübernahme für die Behandlung des Rezidivs mit Avastin (Bevacizumab). Zur Begründung wurde angeführt, dass keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen mehr bestünden und aufgrund des raschen Wachstums des Tumors und der Notwendigkeit einer wirksamen Therapie die Antragstellung erfolgt sei. Aufgrund der aktuellen Ausdehnung des Tumors werde ärztlicherseits eine Therapie mit dem ebenfalls nicht zugelassenen Arzneimittel Regorafenib nicht als optimal angesehen. Es sei zu erwarten, dass sich der noch gute klinische Zustand der Antragstellerin ohne weitere Therapie deutlich und schnell verschlechtern werde. Es lägen drei unabhängige randomisierte Studien zum Einsatz von Bevacizumab bei einem Glioblastom vor, welche ergeben hätten, dass das progressionsfreie Überleben signifikant verlängert worden sei. Dies seien die folgenden Studien: 1. RTOG0825-Studie (Gilbert et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, 2. AVAglio Studie (Chinot et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 6,2 auf 10,6 Monate, 3.GLARIUS- Studie (Herrlinger etal., JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 5,9 auf 9,7 Monate. Aufgrund dieser Studienergebnisse zum Einsatz von Bevacizumab seien zunächst sechs Gaben geplant, danach sei eine erneute MRT-Schädel-Untersuchung zur Evaluation der Behandlung vorgesehen. Bei dem Rezidiv handele es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung, die innerhalb von Wochen bis Monaten zu einer Verschlechterung führen könne, wobei man innerhalb kurzer Zeit mit dem Tode rechnen müsse. Die Antragstellerin befinde sich noch in einem guten klinischen Zustand und habe einen ausgeprägten Therapiewunsch. Auch im Rezidiv könne noch ein Ansprechen des Tumors auf eine Therapie erwartet werden. Ohne weiterführende medikamentöse Behandlung sei mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Tumorwachstum und einer klinischen Verschlechterung bis hin zum Tode der Antragstellerin zu rechnen. Die Avastin-Therapie sei im Übrigen in den USA als Rezidivtherapie bei Glioblastom zugelassen.
Mit Bescheid vom 31.03.2021 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin vom selben Tage ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Hersteller für das beantragte Arzneimittel einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für ihre Erkrankung gestellt habe, diesen allerdings zurückgezogen habe. Die Rücknahme des Antrags entspreche wertungsmäßig eine Ablehnung der Zulassung. Danach könne gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 - eine Kostenübernahme nicht erfolgen, da derzeit nicht davon auszugehen sei, dass die Therapie...