Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unions-Neubürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Bei dem Ausschluss von Grundsicherungsleistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 für einen Ausländer handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, weil das entscheidende Unterscheidungskriterium die Staatsangehörigkeit ist.

2. Ob der Leistungsausschluss für einen rumänischen Staatsangehörigen als Unions-Neubürger mit Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht im Einklang steht, ist im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu klären. Die danach erforderliche Folgenabwägung fällt regelmäßig zugunsten des Antragstellers aus. Diesem drohen ohne die beantragten Leistungen existenzielle Nachteile. Dagegen hat der Leistungsträger nur finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren nicht durchdringt, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05.

 

Tenor

1) Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 23.01.2013 geändert:

a) Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 01.06.2013 bis zum 31.10.2013 Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der Bestimmungen des SGB II zu bewilligen. Im Übrigen wird die Beschwerde gegen die Ablehnung des Eilantrags zurückgewiesen.

b) Den Antragstellern wird für das Eilverfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, Gelsenkirchen, beigeordnet.

2) Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung der einstweiligen Anordnung Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, Gelsenkirchen, beigeordnet.

3) Der Antragsgegner hat ¾ der Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die am 00.00.1993 geborene Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 1) ist die Mutter des am 00.00.2011 geborenen Antragstellers und Beschwerdeführers zu 2). Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1) ist mit ihren Eltern im September 2009 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie ist im Besitz einer am 10.10.2011 ausgestellten Bescheinigung gem. § 5 FreizügG/EU. Hiernach benötigt sie zur Aufnahme einer unselbständigen arbeitsgenehmigungspflichtigen Erwerbstätigkeit einer Arbeitserlaubnis oder Arbeitsberechtigung-EU. Die Antragsteller leben mit den Eltern der Antragstellerin zu 1) in einem gemeinsamen Haushalt. Die Antragstellerin zu 1) und ihre Eltern mieteten die gemeinsame Wohnung ab 01.11.2012 an, der Mietzins zuzüglich Betriebskosten beträgt 524,30 EUR.

Mit Beschluss vom 28.06.2011 (L 19 AS 317/11 B ER) wies der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde der Antragstellerin zu 1) und ihrer Eltern gegen einen Beschluss des SG Gelsenkirchen vom 07.02.2011 (S 31 AS 2678/10 ER) zurück. Mit diesem Beschluss hatte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Arbeitslosengeld II abgelehnt. Mit (rechtskräftigem) Urteil vom 24.09.2012 (S 10 AS 417/11) wies das SG Gelsenkirchen eine Klage der Eltern und der Antragstellerin zu 1) auf Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 03.11.2010 bis zum 31.05.2011 ab.

Am 12.12.2012 beantragten die Antragsteller Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (einschließlich Unterkunftskosten KdU iHv jeweils 131,01 EUR). Sie gaben an, mit Ausnahme des für den Antragsteller zu 2) gezahlten Kindergeldes iHv 184 EUR monatlich über keinerlei Einkünfte zu verfügen und auch keinerlei Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte zu erhalten. Bislang habe die Familie sich durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung "fifty-fifty" und das Kindergeld "über Wasser gehalten". Die erste Monatsmiete sei durch den in Frankreich lebenden Bruder der Antragstellerin zu 1) zur Verfügung gestellt worden, weitere Mietzahlungen seien jedoch nicht sichergestellt.

Mit Bescheid vom 21.01.2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Den Antragstellern stehe kein Leistungsanspruch zu, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Bescheid vom 12.03.2013 zurück, wogegen die Antragsteller am 21.03.2012 Klage erhoben haben.

Bereits am 19.12.2012 haben die Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen und ihren Krankenversicherungsschutz sicherzustellen. Sie seien hilfebedürftig, da sie mit Ausnahme des Kindergelds über keinerlei Einkünfte verfügten. Die Antragstellerin zu 1) bemühe sich intensiv um Arbeit. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II stehe einem Leistungsanspruch nicht entgegen, da diese Vorschrift dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot widerspreche. Jedenfalls müsse den Antragstellern im Eilverfahren aufgrun...

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