Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unions-Neubürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 für einen Unions-Neubürger mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist.
2. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, weil das entscheidende Unterscheidungskriterium die Staatsangehörigkeit ist.
3. Die Unterscheidung zwischen vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten Alt-Unionsbürgern und nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigten Neu-Unionsbürgern, die nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben, vermag den Leistungsausschluss für einen bulgarischen Staatsangehörigen als Unions-Neubürger nicht zu rechtfertigen.
4. Stehen dem Unions-Neubürger aus Art. 4 EGV 883/2004 grundsätzlich Leistungen des SGB 2 wie einem deutschen Staatsangehörigen zu, so wird dieser aus dem Gleichbehandlungsgebot erwachsene Anspruch nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt. i. V. m. Art. 14 Abs. 4 b der Richtlinie 2004/38/EG eingeschränkt.
5. Die in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten und komplexen Rechtsfragen sind im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zuverlässig abschließend zu beurteilen. Nach der danach entscheidenden Folgenabwägung sind dem hilfebedürftigen Unions-Neubürger bei drohenden existenziellen Nachteilen Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz zu bewilligen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 14.06.2012 geändert: Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 09.11.2012 vorläufig bis zur Entscheidung über ihre Klage SG Köln S 15 AS 2801/12, längstens jedoch bis zum 30.04.2013 Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs gemäß § 20 SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Hälfte der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen.
Gründe
I.
Die 1963 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und reiste im November 2010 nach Deutschland ein, um hier nach eigenen Angaben mit ihrem 1940 geborenen Lebensgefährten M. zusammen zu leben. Dieser erhält bei Bezug einer Altersrente von 491,28 Euro mtl (Auszahlbetrag im April 2012) ergänzend Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Die Kosten der Unterkunft in Höhe von 358,24 Euro monatlich werden seit März 2011 nicht mehr in voller Höhe, sondern wegen des der Antragstellerin zuzurechnenden Anteils nur noch zur Hälfte übernommen. Trotz zwischenzeitlich aufgelaufener Mietrückstände wurde noch keine Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen. Die Antragstellerin ist nicht im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung, sie nutzt eine im Heimatland ausgestellte und bis zum 18.01.2013 befristete European Health Insurance Card. Seit November 2011 hat sie sich in L und Umgebung schriftlich erfolglos auf Tätigkeiten als Hilfskraft in Hotels, Einzelhandelsläden und Restaurants beworben.
Den Antrag vom 29.11.2011, ihr Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen, lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 22.03.2012, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 15.06.2012 mit der Begründung ab, für die Antragstellerin gelte der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Über die hiergegen erhobene Klage ist noch nicht entschieden.
Den Antrag vom 03.04.2012, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die dringend benötigten existenzsichernden Leistungen zu gewähren, hat das Sozialgericht durch Beschluss vom 14.06.2012, zugestellt am 15.06.2012, abgelehnt. Für die Zahlung von Kosten der Unterkunft fehle es am Anordnungsgrund. Die Eilbedürftigkeit sei mit Blick auf § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB erst bei Rechtshängigkeit der Räumungsklage gegeben. Für die Leistungen im Übrigen hat es einen Anordnungsanspruch mit eingehender Begründung verneint und im Wesentlichen darauf abgestellt, dass für die Antragstellerin als bulgarische Staatsangehörige, ungeachtet der Frage, ob sie die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II erfülle, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greife. Ihr Aufenthaltsrecht leite sich allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ab. Der Leistungsausschluss sei europarechtskonform, denn bulgarische Staatsangehörige seien bis Ende 2013 nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigt. Darin liege die sachliche Rechtfertigung für eine mit Blick auf Deutsche und Alt-Unionsbürger abweichende Regelung.
Mit ihrer Beschwerde vom 11.07.2012 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Ihr Lebensgefährte sei nicht mehr in der Lage, sie ausreichend zu ...