Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Anrechnung des Einkommens des Stiefvaters auf den Bedarf des Kindes
Orientierungssatz
1. Bei minderjährigen Kindern ist nach § 9 Abs. 2 S. 2 SGB 2 die schematische Anrechnung von Einkommen des Stiefvaters zulässig, ohne dass eine Widerlegung möglich ist und ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das Existenzminimum des Kindes tatsächlich durch entsprechenden Einkommenszufluss durch den Stiefvater gesichert ist.
2. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen im Hinblick auf das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 GG. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist eine Vorlage an das BVerfG erst nach Erlass einer einstweiligen Anordnung möglich, wenn der Grundrechtsverstoß überwiegend wahrscheinlich ist.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin (Ag) wird der Beschluss des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 01.03.2007 geändert. Der Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung (EA) wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Bedenken gegen die Verfassungskonformität der ab 01.08.2006 geltenden Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind nicht derart gravierend, dass diese Vorschrift ohne Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts außer Anwendung bleiben kann. Bei den Antragstellerinnen (Ast) handelt es sich um die 4 Kinder von Frau K aus einer früheren Beziehung. Frau K. wohnt mit ihrem jetzigen Ehemann, der nicht der leibliche Vater einer der Ast ist, und einem gemeinsamen Kind in einem Haus, das dem Ehemann und Frau K. je zur Hälfte gehört. Bis zum 31.07.2006 erhielten die Ast Leistungen unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 9 Abs. 5 SGB II. Ab 01.08.2006 wurde der Bedarf der Ast unter Berücksichtigung des Einkommens ihres Stiefvaters neu unter Beachtung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II überprüft. Diese Berechnung ergab, dass sich danach kein Leistungsanspruch mehr ergab. Für die Zeit ab dem 01.08.2006 wurden Leistungen an die Ast mit Bescheid vom 28.07.2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 04.10.2006, abgelehnt. Das hiergegen angestrengte Hauptsacheverfahren ist beim SG Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 35 AS 236/06 anhängig. Der Vertreter der Ast räumt ein, dass die Ag den § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der ab 01.08.2006 geltenden Fassung korrekt und rechnerisch zutreffend angewandt hat. Die Vorschrift sei jedoch verfassungswidrig.
Die Ast haben am 26.10.2006 erneut - wie bereits während des Widerspruchsverfahrens - um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Das SG hat dem Antrag mit Beschluss vom 01.03.2007 entsprochen und die Ag verpflichtet , den Ast vorläufig bis März 2007 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung des Einkommen des Stiefvaters zu gewähren. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: "Es liegt zunächst ein Anordnungsgrund vor, da die Mutter der Antragstellerinnen unter Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung bereits in dem vorausgegangenen Eilverfahren (Az.: S 24 AS 213/06 ER) vorgetragen hat, dass der Stiefvater ihrer vier Kinder tatsächlich keinen Unterhalt leistet und ebenso auch nicht der leibliche Vater. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Unterhalt der Antragstellerinnen entsprechend der auch in § 9 Abs. 5 SGB II zum Ausdruck gebrachten auf der Lebenswirklichkeit beruhenden gesetzlichen Vermutung jedenfalls tatsächlich derzeit gesichert ist. Da der Lebensunterhalt der Antragstellerin damit nicht sicher gestellt ist, wäre ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache mit für die Antragstellerinnen unzumutbaren irreversiblen Nachteile verbunden.
Zwar ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs derzeit nicht zweifelsfrei festzustellen. Das Gericht hat jedoch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die seit dem 01.08.2006 geltenden Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II (so schon SG Düsseldorf, Beschl. v. 28.09.2006, - S 24 AS 213/06 ER; SG Berlin Beschl. v. 08.01.2007, - S 103 AS 10869/06 ER geht von einer Verfassungswidrigkeit der Regelung aus; a. A.: SG Berlin, Beschl. v. 20.12.2006, - S 37 AS 11401/06 ER und SG Aachen, Beschl. v. 05.01.2007, - S 9 AS 146/06 ER -, die eine verfassungskonforme Auslegung der Regelung für möglich halten), wonach die Antragsgegnerin das Einkommen des Stiefvaters der Antragstellerinnen auf deren Bedarf angerechnet hat. Deshalb ist im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der Leistungen dem Antrag auf Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Folgenabwägung stattzugeben.
Gemäß der zum 01.08.2006 in Kraft getretenen Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei minderjährigen Kindern auch das Einkommen des im Haushalt lebenden Partners des Elternteils zu berücksichtigen. Auch nach bisherigem Recht war eine solche Einkommensanrechnung möglich. Gemäß § 9 Abs. 5 SGB II existiert eine Unterhaltsvermutung für den Fall, dass Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mi...