Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 sind Ausländer von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
2. Dieser Leistungsausschluss war nach der Rechtsprechung des BSG nach der bis zum 18. 12. 2011 geltenden Rechtslage für EU-Bürger, deren Heimatland das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) unterzeichnet hat, wegen des Gleichbehandlungsgebotes des Art. 1 EFA nicht anzuwenden, vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R.
3. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 19. 12. 2011 einen Vorbehalt zum EFA erklärt, wonach Leistungen des SGB 2 von der Verpflichtung des EFA ausgenommen sind.
4. Für den Fall, dass dieser Vorbehalt wirksam ist, bleibt weiterhin umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB 2 gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt. Nach der Rechtsprechung des EuGH bleibt offen, ob es sich bei den Leistungen des SGB 2 um Leistungen handelt, die den erleichternden Zugang zum Arbeitsmarkt bezwecken sollen, vgl. EuGH, Urteil vom C- 22/08.
5. Weil eine abschließende Klärung der Rechtslage nicht möglich ist, ist bei einer beantragten Bewilligung von Grundsicherungsleistungen durch einstweiligen Rechtsschutz aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Bei ungeklärten Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist zugunsten des Antragstellers zu entscheiden. Existenzsichernde Leistungen sin nämlich auch ausländischen Staatsangehörigen aufgrund des ihnen zustehenden Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewähren.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.08.2012 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Beschwerdeverfahren.
Gründe
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat den Antragsgegner zu Recht verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit vom 06.07.2012 bis zum 31.12.2012 den Regelbedarf nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05-, NVwZ 2005, S. 927).
Die 1992 geborene Antragstellerin ist die Mutter des 2011 geborenen Antragstellers. Beide sind italienische Staatsangehörige.
Die Antragsteller haben gegenüber dem Antragsgegner Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Diesbezüglich ist sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II sind glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Sie ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II, hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Sie ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von den Leistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt.
Zwar hält sich die Antragstellerin alleine zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland auf. Ein anderer, Unionsbürgern gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Freizügigkeit und somit zum Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat berechtigender Aufenthaltszweck, welcher nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum die Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausschließt (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 - L 10 AS 617/09; LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2008 - L 20 B 76/07 SO ER...