Entscheidungsstichwort (Thema)
Auferlegung von Kosten wegen unterlassener Behördenermittlungen
Orientierungssatz
1. Die Gegenvorstellung gegen eine gerichtliche Entscheidung findet statt, wenn dem Betroffenen durch die Entscheidung grobes Unrecht zugefügt worden ist, das im Wege richterlicher Selbstkontrolle beseitigt werden muss.
2. Das Gericht kann nach § 192 Abs. 4 SGG durch gesonderten Beschluss der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.
3. Die vom Gericht durchgeführten Ermittlungen müssen spätestens im Zeitpunkt des erlassenen Widerspruchsbescheides nach der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung unverzichtbar gewesen sein. Eine generalisierende Betrachtungsweise hinsichtlich der angefallenen Ermittlungskosten ist mit den Grundsätzen der einzelfallbezogenen Kostenentscheidung unvereinbar.
4. Eine nicht auf den konkreten Fall bezogene abstrakte historische oder sozialwissenschaftliche Auswertung von Gerichtsentscheidungen gehört nicht zu den Aufgaben, die eine Behörde im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht erfüllen müsste.
Tenor
Auf die Gegenvorstellung der Beklagten wird der Beschluss des vormaligen Berichterstatters vom 25.3.2010 aufgehoben.
Gründe
I.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf höhere Witwenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann (im Folgenden: Versicherter) unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) im Ghetto Lodz in der Zeit v. Mai 1940 bis Mai 1942 gewesen, wo der am 00.00.1930 geborene Versicherte in einem Metallressort gearbeitet habe. Die Beklagte wertete mehrere von der Klägerin überreichte Zeugenaussagen sowie die Entschädigungsakte des Versicherten aus und holte eine Anfrage an das Staatsarchiv in Lodz ein, wonach der Versicherte von 1940 bis 1944 in Lodz als "Schüler" gemeldet gewesen sei. In den aufbewahrten Arbeitskarten sei sein Name nicht gefunden worden. Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin große Witwenrente ab dem 1.7.1997 und berücksichtigte dabei den Zeitraum von Juni 1942 (Vollendung des 12. Lebensjahres) bis August 1944 als Ghettobeitragszeit. Die Anerkennung vor diesem Zeitpunkt liegender Beitragszeiten lehnte sie ab (Bescheid v. 11.7.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 6.4.2004. Die dagegen erhobene Klage, mit der die Klägerin auch die Anerkennung des weiteren Zeitraums begehrte, hatte vor dem Sozialgericht Düsseldorf Erfolg (Urteil v. 13.7.2005, S 39 RJ 139/04). Die Beklagte hat ihre Berufung gegen dieses Urteil inzwischen zurückgenommen.
Im Berufungsverfahren hat zunächst die Historikerin Dr. C. (Tel Aviv) am 3.2.2008 (nebst ergänzender Stellungnahme v. 4.4.2008) ein Sachverständigengutachten zu der Frage erstattet, ob bzw. wann in Lodz ein Ghetto bestanden habe, welche Arbeitsbedingungen dort geherrscht hätten und ob die Angaben des Versicherten zu seiner Beschäftigung glaubhaft im Sinne einer guten Möglichkeit seien. Die Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Arbeitsaufnahme des Versicherten vor April/Mai 1942 nicht als wahrscheinlich angesehen werden könne. Sodann ist die Klägerin in Israel zum Verfolgungsschicksal des Versicherten gehört worden. Mit Beweisanordnung v. 21.4.2008 ist die Historikerin I. zur Sachverständigen ernannt und gebeten worden, unter Verwertung der Aktenlage und einer Archivrecherche in Lodz Stellung zu der Frage zu nehmen, ob und ggf. von wann bis wann, wo und ggf. zu welchem Entgelt der Versicherte im Ghetto Lodz gearbeitet habe. Mit richterlichem Schreiben vom 1.7.2008 hat der Berichterstatter die Beklagte darauf hingewiesen, dass für die nun durchzuführenden gerichtlichen Ermittlungen auch die Neufassung des § 192 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingreife. Im Anschluss an diesen Hinweis haben folgende gerichtliche Ermittlungen stattgefunden:
Gutachten Dr. M. (Touro College Berlin) zu der Frage, ob und inwieweit seine für Warschau ermittelten Erkenntnisse zur Entlohnung jüdischer Arbeit auch für Lodz zutreffend seien (682,50 EUR) Erstellung einer CD mit Bildern von Kindern in Arbeitsressorts des Ghettos Lodz durch Dr. M. (162,50 EUR) Gutachten von Dr. M. betreffend Datierung von Fotografien arbeitender Kinder im Ghetto Lodz (1.137,50 EUR) Stellungnahme der offenbar in anderen Verfahren zur Sachverständigen ernannten Historikern Dr. M2 zu einer Stellungnahme der Beklagten zu einer im Verfahren L 18 (8) R 19/06 eingeholten Stellungnahme des offenbar dort zum Sachverständigen ernannten Historikers Dr. M1 betreffend Kinderarbeit im Ghetto Lodz sowie Stellungnahme von Frau Dr. M2 zu drei ihr übersandten Schriftsätzen der Beklagten bzw. der Klägerbevollmächtigten (insgesamt 390,00 EUR) Stellungnahme des Historikers Dr. L. zu denselben Schriftsätzen sowie zur Stellungnahme von Dr. M...