Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen der Ermittlungspflicht des Gerichts bei dessen Entscheidung über eine beantragte Erwerbsminderungsrente
Orientierungssatz
1. Bei der Entscheidung des Sozialgerichts über eine beantragte Erwerbsminderungsrente ist einem vom Gericht eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten ein höherer Beweiswert nach § 128 SGG gegenüber einer Bescheinigung des behandelnden Arztes des Klägers beizumessen.
2. Liegen zur Klärung des medizinischen Sachverhalts dem Gericht mehrere Gutachten vor, so ist es zu einer weiteren Beweiserhebung nur dann verpflichtet, wenn diese Mängel oder Widersprüche enthalten, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen oder wenn Zweifel an der Sachkunde des Gutachters bestehen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.02.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die (Weiter-)Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Die 1977 in Bulgarien geborene Klägerin verfügt über keine Berufsausbildung und übte verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten aus. Sie erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 und Eingliederungshilfe im Rahmen ambulant betreuten Wohnens (ABeWo).
Nachdem die Beklagte ihr für den Zeitraum von Januar 2019 bis Januar 2021 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt hatte, stellte die Klägerin im November 2020 unter Verweis auf eine Verschlechterung ihrer psychischen Störung (Depressionen und Ängste) einen Weiterzahlungsantrag. Die Beklagte holte einen Befundbericht des praktischen Arztes P. vom 18.12.2020 ein, zog das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des MDK I. aus Dezember 2020 bei und ließ die Klägerin anschließend zur Feststellung ihres Leistungsvermögens von der Ärztin für Allgemein- und Sozialmedizin U. begutachten. Diese führte unter der Diagnose chronischer Lumboischalgien aus, die psychische Situation sei - bis auf eine demonstrierte Vergesslichkeit - ohne Relevanz. Bei der körperlichen Untersuchung hätten deutliche Aggravationstendenzen und Inkongruenzen bestanden. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit lasse sich nicht feststellen (Gutachten vom 22.02.2021).
Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 24.02.2021 ab.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen Attestes der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie F. und eines Schreibens der Betreuerin im Rahmen des ABeWo mit einer schweren chronischen Depression, Angstzuständen, Somatisierungsstörungen und Rückenschmerzen. Im Gutachten sei auf ihren psychischen Zustand kaum eingegangen worden.
Nach Eingang eines Befundberichtes der behandelnden Psychiaterin veranlasste die Beklagte eine fachpsychiatrische sowie eine fachorthopädische Begutachtung. Die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Z. diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, Angststörungen mit Panikattacken, einen Zustand nach Lendenwirbelsäulenoperation 2016 mit lumboischialgieformen Beschwerden ohne akute Wurzelreizsymptomatik sowie eine einfache Migräne. Die Klägerin könne mit näher beschriebenen qualitativen Einschränkungen noch sechs Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen (Gutachten vom 02.08.2021). Der Facharzt für Orthopädie L. diagnostizierte einen chronischen lumbalen Rückenschmerz bei Zustand nach Nukleotomie 2016 sowie einen chronischen Schulter-Nackenschmerz. Die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen sechs Stunden und mehr ausüben (Gutachten vom 22.09.2021).
Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 06.01.2022 zurück. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente seien unter Berücksichtigung der eingeholten Sachverständigengutachten nicht gegeben.
Hiergegen hat die Klägerin am 31.01.2022 Klage vor dem Sozialgericht Köln (SG) erhoben. Ihre psychischen Erkrankungen seien in keiner Weise ausreichend berücksichtigt worden. Es werde diesbezüglich insbesondere auf das Attest der Psychiaterin F. vom 26.05.2021 verwiesen. Zudem müsste berücksichtigt werden, dass sie seit Jahren ambulant betreutes Wohnen in Anspruch nehme und bei ihr ein Pflegegrad 2 festgestellt worden sei.
Das SG hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte P. und F. sowie des Orthopäden S. sowie anschließend ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie X. vom 01.12.2022 mit Zusatzgutachten des Facharztes für Orthopädie Y. vom 21.09.2022 eingeholt. Y. hat sowohl die Befunde des L. als auch dessen Leistungseinschätzung bestätigt. Die Klägerin könne leichte bis mittelsch...