Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 handelt es sich für einen Unionsbürger um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, weil das entscheidende Unterscheidungskriterium allein die Staatsangehörigkeit ist. Mit sekundärem Gemeinschaftsrecht ist es nicht vereinbar, dass ein Unionsbürger, der sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhält, ohne dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet worden sind, automatisch ohne Einzelfallprüfung unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit von den Leistungen nach dem SGB 2 ausgeschlossen ist, vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - C-140/12.

2. Soweit der Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nur möglicherweise besteht, ist dieser durch Eilrechtsschutz zumindest vorläufig zu befriedigen, wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe sichert und nicht absehbar ist, dass kurzfristig die notwendige abschließende Klärung über das Vorliegen des Anspruchs herbeigeführt werden kann, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 10.12.2013 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren.

 

Gründe

I. Streitig ist ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für eine bulgarische Staatsangehörige im Rahmen eines Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 10.12.2013 verpflichtet, der 1953 geborenen Antragstellerin vorläufig ab dem 03.09.2013 bis zum 28.02.2014 Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelbedarf) zu zahlen. Die Antragstellerin habe sowohl einen Anordnungsgrund als auch den Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie sei hilfebedürftig. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II stehe dem nicht entgegen. Im Wege der Folgenabwägung sei angesichts der Zweifel an der Europarechtskonformität dieser Ausschlussregelung der bedürftigen Antragstellerin zur vorläufigen Existenzsicherung befristet die Leistungen zu gewähren.

Gegen diesen dem Antragsgegner am 15.12.2013 zugestellten Beschluss richtet sich seine Beschwerde vom 09.01.2014, zu deren Begründung er sich im Wesentlichen auf anderslautende Rechtsprechung des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 15.11.2013 - L 15 AS 365/13 B ER, juris) bezieht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Die vom SG getroffene Anordnung, mit der der Antragsgegner verpflichtet wurde, der Antragstellerin vorläufig Grundsicherungsleistungen in Form des Regelbedarfs nach § 20 SGB II vom 03.09.2013 befristet bis 28.02.2014 zu gewähren, ist rechtmäßig.

Die Antragstellerin hat, darüber herrscht auch zwischen den Beteiligten kein Streit, die Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht.

Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, auf den sich der Antragsgegner allein berufen könnte und beruft, greift nicht. Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses vorliegen; denn - soweit ersichtlich - nach allen von den zuständigen Fachsenaten des Landessozialgerichts für das einstweilige Rechtsschutzverfahren entwickelten rechtlichen Ansätzen kommt man hier zu einem vorläufigen Leistungsanspruch der Antragstellerin.

Folgt man mit dem SG der Auffassung, die Antragstellerin halte sich nicht (mehr) allein zur Arbeitssuche in Deutschland auf, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der eng auszulegenden Ausschlussnorm schon nicht gegeben (s. LSG NRW Urteil vom 10.10.2013 - L 19 AS 129/13; kritisch zu diesem rechtlichen Ansatz Urteil des erkennenden Senats vom 28.11. 2013 - L 6 AS 130/13).

Von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist die Antragstellerin auch dann nicht, wenn man mit dem erkennenden Senat davon ausgeht, dass § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II jedenfalls deshalb nicht greift, weil die Bestimmung mit europäischem Sekundärrecht nicht vereinbar ist (vgl. hierzu zusammenfassend Urteil vom 28.11. 2013 - L 6 AS 130/13; s. EuGH Urteil vom 19.09.2013 - Rs. C-140/12 - Brey, juris). Danach verstößt der Ausschluss gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Bei dem Leistungsausausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine (ausdrückliche) Regelung, die eine solche unterschiedliche Behandlung zuläss...

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