Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für einen arbeitsuchenden Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Begehrt der Hilfebedürftige die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung und ist dessen Erwerbsfähigkeit ungeklärt, so wird bis zur Entscheidung über den gegen den ablehnenden Verwaltungsakt erhobenen Widerspruch die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bis zur Widerspruchsentscheidung nach § 44a Abs. 1 S. 7 SGB 2 unterstellt.
2. Bei einem Unionsbürger ist weiterhin ungeklärt, ob er als Arbeitsuchender gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist. Weil die Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden kann, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.
3. Dabei ist das fiskalische Interesse des Grundsicherungsträgers gegenüber der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für den Antragsteller abzuwägen. Diese Folgenabwägung fällt wegen der existenzsichernden Leistungen des SGB 2 regelmäßig zu Gunsten des Antragstellers aus.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, §§ 7a, 8 Abs. 1, § 44a Abs. 1 S. 7; SGG § 86b Abs. 2; GG Art. 1, 19 Abs. 4; VO (EG) 883/2004 Art. 4, 70 Abs. 1-2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 11.03.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.03.2015 bis zum 31.08.2015 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu zahlen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwältin U beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die 1976 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben erstmals im Sommer 2012 nach Deutschland ein. Am 03.01.2014 ist sie in das Frauenhaus L aufgenommen worden. In L war sie von Februar 2014 bis April 2014 abhängig beschäftigt. Die Antragstellerin wohnt seit dem 12.09.2014 im Frauenhaus in P. Für die Monate September, Oktober, November und Dezember 2014 hat die Antragstellerin Abrechnungen des Frauenhauses eingereicht. Die Mietübernahme für das Frauenhaus in P steht aus. Nach dortiger Erklärung muss aufgrund fehlender Mietzahlung das Mietverhältnis möglicherweise beendet werden.
Die Antragstellerin beantragte erstmals im September 2014 bei dem Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Entsprechende Leistungen wurden ihr zunächst für den Zeitraum 12.09.2014 bis 31.10.2014 gewährt.
Am 23.09.2014 beantragte die Antragstellerin die Weitergewährung der Leistungen für die Zeit ab November 2014. Den Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 08.12.2014 ab, weil ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein zur Arbeitsuche vorliege und sie daher nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei. Gegen diese Ablehnung richtet sich der Widerspruch vom 17.12.2014. Die Antragstellerin trug vor, sie sei im Juni 2013 Opfer einer Gewalttat geworden und trete als Nebenklägerin in einem noch nicht abgeschlossen Strafverfahren auf. Ihr Aufenthalt in Deutschland diene nicht allein der Arbeitsuche.
Im Rahmen eines Eilverfahrens verpflichtete das Sozialgericht Duisburg (Az. S 26 AS 5110/14 ER) den Antragsgegner, der Antragstellerin vorläufig und bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum 28.02.2015, Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 391,00 Euro nebst Kosten der Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe zu gewähren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Ab November 2014 sei die Antragstellerin weder Arbeitnehmerin noch Selbständige noch nach § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt. Der Arbeitnehmerstatus bleibe bei einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr maximal für sechs Monate unberührt. Die Klägerin habe nach eigenen Angaben drei Monate gearbeitet. Soweit die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen herleiten wolle, könne dem nicht gefolgt werden, weil sie nach dem Sachvortrag nicht Opfer einer der in dem dortigen Katalog abschließend aufgeführten Straftaten geworden sei. Die gegen die Ablehnung gerichtete Klage ging am 28.01.2015 bei Gericht ein (Az. S 49 AS 354/15).
Am 05.02.2015 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Duisburg und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie halte sich ni...