Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung eines Widerspruchsbescheides über die Entziehung von Sozialleistungen wegen fehlender Ermessensausübung
Orientierungssatz
1. Die Entziehung von Sozialleistungen wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht steht nach § 66 Abs. 1 SGB 1 im Ermessen des Leistungsträgers. Der Entziehung muss eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Ermessensentscheidung zugrundeliegen.
2. Bei einer Ermessensentscheidung muss auch die zur Entscheidung über den Widerspruch berufene Stelle Ermessen ausüben. Der von ihr erlassene Widerspruchsbescheid muss Ermessensgründe erkennen lassen. Entsprechend § 35 Abs. 1 S. 3 SGB 10 ist im Einzelfall zu beurteilen, ob die Widerspruchsbehörde die Erwägungen der Ausgangsbehörde ausdrücklich verwirft und durch eigene ersetzt oder diese durch eigene Überlegungen ergänzt, nur verdeutlicht oder aber ohne jeden Vorbehalt bestätigt (BVerwG Urteil vom 30. 10. 1997, 4 RA 71/96).
3. Lässt der Widerspruchsbescheid des Leistungsträgers über die Entziehung von Sozialleistungen die erforderlichen Ermessenserwägungen nicht erkennen, so ist er aufzuheben.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 09.03.2020 geändert und der Klägerin für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Dortmund ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt.
Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund, in dem (jedenfalls) die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) wegen fehlender Mitwirkung für die Zeit von Juni 2019 bis Dezember 2019 streitig war.
Die im Jahre 1959 geborene Klägerin bezieht laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom Beklagten. Seit Ende des Jahres 2016 war sie wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Sie teilte mit, sie sei kaum in der Lage zu laufen. Ab Oktober 2017 forderte der Beklagte die Klägerin mehrfach auf, eine Einschätzung ihres behandelnden Arztes hinsichtlich ihrer Erwerbsfähigkeit vorzulegen. Die Klägerin lehnte die Vorlage des entsprechenden Formulars aus Datenschutzgründen im März 2018 ab. Der Beklagte teilte ihr daraufhin mit, dass die Einschaltung des ärztlichen Dienstes erforderlich sei.
Anlässlich eines Termins zur amtsärztlichen Untersuchung am 22.05.2018 weigerte sich die Klägerin, eine schriftliche Einverständniserklärung bezüglich der Gutachtenübermittlung an das Jobcenter zu unterschreiben und eine Erklärung über die Entbindung ihrer behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht abzugeben.
Zu einem weiteren Untersuchungstermin am 25.09.2018 erschien die Klägerin unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht. Auch einer erneuten Ladung zur ärztlichen Untersuchung am 23.10.2018 kam sie nicht nach.
Mit Bescheid vom 11.12.2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.01.2019 bis zum 31.12.2019.
Am 12.02.2019 erschien die Klägerin auf Einladung zur amtsärztlichen Begutachtung, erklärte jedoch, dass sie eine Einverständniserklärung zur Übermittlung der Untersuchungsergebnisse an das Jobcenter nicht unterschreiben werde. Eine Untersuchung erfolgte daraufhin nicht.
Mit Schreiben vom 28.03.2019 lud der Beklagte die Klägerin zu einer weiteren ärztlichen Untersuchung am 09.04.2019 ein. Der Beklagte sei dazu verpflichtet, die Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung des Leistungsanspruchs nach dem SGB II festzustellen. Die ärztliche Begutachtung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin werde in ihrem Fall unter Ausübung von pflichtgemäßem Ermessen auf Grund der von ihr angegebenen und bereits seit längerer Zeit bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen als erforderlich angesehen. Zu den Mitwirkungspflichten der Klägerin gehöre auch die Zustimmung zur Weiterleitung des ärztlichen Gutachtens des Gesundheitsamtes des Kreises Soest an den Beklagten. Darüber hinaus solle die Klägerin das Schreiben ihrem behandelnden Arzt vorlegen und ihn um leihweise Überlassung der Behandlungsunterlagen oder um Übersendung per Post an den ärztlichen Dienst bitten. Ein wichtiger Grund dafür, diesen zumutbaren Mitwirkungspflichten nicht nachzukommen, sei nicht vorgetragen worden. Sollte die Klägerin den Termin beim Gesundheitsamt ohne wichtigen Grund nicht wahrnehmen, würden die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zum nächstmöglichen Zeitpunkt bis zur Nachholung der Mitwirkung entzogen. Das bedeute, dass die Klägerin bis zur vollständigen Nachholung der Mitwirkung keine weiteren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II mehr erhalten werde.
Mit Schreiben vom 07.04.2019 legte die Klägerin Widerspruch gegen die Einladung zur Untersuchung am 12.02.2019 ein. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, sie sei ihrer Mitwirkungspflicht bereits am 12.02.2019 nachgekommen. Seit Okto...