Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für eine schwangere Ausländerin durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ordnet an, dass Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von dem System des SGB 2 ausgeschlossen sind. Allerdings ist zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss mit den europarechtlichen Vorgaben der Art. 39 Abs. 2 und Art. 43 EG-Vertrag zu vereinbaren ist.
2. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist, sofern eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden.
3. Bedarf eine schwangere Ausländerin einer medizinischen Krankenbehandlung und kann sie den Bedarf des täglichen Lebens nicht aus eigenen Kräften bestreiten, so ist ihr durch einstweiligen Rechtsschutz die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 Abs. 2 SGB 2 zu bewilligen; diese löst zugleich die Krankenversicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB 5 aus.
Tenor
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 22.02.2010 geändert.
Die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, der Antragstellerin die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 20 Abs. 2 SGB II für die Zeit vom 08. Februar 2010 bis zum 31. Mai 2010 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragstellerin wird für die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Sozialgericht Köln sowie für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin U aus L bewilligt.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge zu 3/4.
Gründe
Die Beschwerden der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Köln vom 22.02.2010 sind zulässig und überwiegend begründet.
1. Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg, soweit das SG ihren Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz in vollem Umfang abgelehnt hat.
a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war der Antragstellerin im tenorierten Umfang die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 20 Abs. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) einstweilen, d.h. vorläufig zu gewähren.
aa) Die Antragstellerin ist niederländische Staatsangehörige. Von dem Leistungssystem des SGB II dürfte sie nach dem nationalen Recht ausgeschlossen sein.
Denn die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ordnet an, dass Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von dem System des SGB II ausgeschlossen sind. Nach bisherigem Erkenntnisstand dürfte dies der Fall sein. Daran dürfte der Umstand nichts ändern, dass die Antragstellerin nach ihren Angaben (auch) eingereist ist, um mit ihrem, nach Roma-Sitte verheirateten und noch minderjährigen Mann zusammenzuleben, worauf die Antragsgegnerin zu Recht mit Schriftsatz vom 25.03.2010 hingewiesen hat. Die abschließende Prüfung bleibt dem sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Es ist allerdings zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit den europarechtlichen Vorgaben zu vereinbaren ist. Denn (jedenfalls) Alt-EU-Bürger wie die Antragstellerin sind u.a. als Arbeitsuchende insbesondere aufgrund der Diskriminierungsverbote des Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag sowie des in der Niederlassungsfreiheit enthaltenen Grundsatzes der Inländergleichbehandlung des Art. 43 EG-Vertrag in Verbindung mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht in Bezug auf die Gewährung eines Existenzminimums zu ihrer sozialen Sicherheit im Ergebnis nicht mehr auf ihren Heimatmitglie...