Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger. Unterhaltsgewährung durch Verwandte gerader Linie
Leitsatz (amtlich)
Unter welchen Voraussetzungen eine ein materielles Freizügigkeitsrecht begründende Unterhaltsgewährung im Sinne des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) vorliegt, ist umstritten. Daher kann einer im Wege des sozialgerichtlichen Eilverfahrens existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII begehrenden Person die Berufung auf ein materielles Freizügigkeitsrecht zumindest dann nicht verwehrt werden, wenn ihr tatsächliche, den Lebensunterhalt zumindest teilweise deckende Leistungen durch freizügigkeitsberechtigte Verwandte seit ihrer Einreise nach Deutschland erbracht werden (hier bejaht bei mietfreiem Wohnen sowie Gewährung monatlicher Zuwendungen von ca 120 Euro durch die Söhne der Antragstellerin).
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 11.12.2019 wird zurückgewiesen. Auf die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin wird die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin auch für die Zeit vom 01.02.2020 bis 30.06.2020 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen in Höhe des Regelbedarfes abzüglich 120,00 EUR monatlich sowie Hilfe bei Krankheit zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ab dem 14.01.2020 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C, L, beigeordnet.
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgemäß eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin vom 19.12.2019 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 11.12.2019, mit der sie sich gegen die im Wege der einstweiligen Anordnung auferlegte Verpflichtung wendet, der Antragstellerin ab Antragstellung bis Ende Dezember 2019 vorläufig nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) in Höhe des Regelbedarfs abzüglich 120,00 EUR monatlich sowie Hilfe bei Krankheit zu gewähren, ist unbegründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag der Antragstellerin für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum und Umfang zu Recht entsprochen (unter 1.). Ferner war der mit Schriftsatz der Antragstellerin vom 24.03.2020 eingelegten (unselbstständigen) Anschlussbeschwerde hinsichtlich des Zeitraums vom 01.02.2020 bis 30.06.2020 bei ansonsten unveränderter Sach- und Rechtslage stattzugeben (unter 2.).
1.) a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschl. v. 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B -, juris Rn. 6). Allerdings ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - (GG) und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn - wie hier - die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgen dabei Vorgaben für den Prüfungsmaßstab. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschl. der 3. Kammer des Ersten Senats v. 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris Rn. 10, 12). In Anwendung dieser Maßstäbe hat die Antragstellerin ab dem 31.10.2019 sowohl einen Anordnungsanspruch, gerichtet auf Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Form des Regelbedar...