Entscheidungsstichwort (Thema)

Widerlegung des SGB 2-Leistungsausschlusses wegen des Anwendungsvorrangs europäischen Sozialrechts

 

Orientierungssatz

1. Das Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers nach Art. 10 EGV 492/2011 beseitigt den Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB 2.

2. Das ausbildungsbezogene Aufenthaltsrecht des Kindes eines Unionsbürgers besteht unabhängig von den Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG. Das Kind und dessen sorgeberechtigter Elternteil müssen nicht über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Zusammen mit dem in der Ausbildung befindlichen Kind hat der sorgeberechtigte Elternteil ein von diesem abgeleitetes Aufenthaltsrecht, auch wenn ein auf den Freizügigkeitsregelungen beruhendes eigenes Aufenthaltsrecht des Elternteils nicht besteht (BSG Urteil vom 3. 12. 2015, B 4 AS 43/15 R).

3. Sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB 2 erfüllt, so entfaltet der Leistungsausschluss wegen des Anwendungsvorrangs europäischen Sozialrechts keine Wirkung. Dies folgt aus dem Verstoß der Vorschrift gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 EGV 883/2004.

4. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, weil das entscheidende Unterscheidungskriterium die Staatsangehörigkeit ist. In der EGV 883/2004 selbst findet sich keine Regelung, die eine solche unterschiedliche Behandlung zulässt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 07.02.2017 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, auch der Antragstellerin zu 2) für die Zeit vom 02.12.2016 bis zum 31.03.2017, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II durch Gewährung des Regelbedarfes unter Anrechnung des Einkommens des Antragstellers zu 1) aus geringfügiger Beschäftigung sowie des Kindergeldes in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 2) in beiden Rechtszügen zu 2/3. Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenregelung im Beschluss des SG.

Der Antragstellerin zu 2) wird ab 26.06.2017 ratenfreie Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt I, F, bewilligt. Für die Antragsteller zu 1), 3) und 4) wird der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die am 00.00.1983 geborene Antragstellerin zu 2) begehrt im Rahmen des Beschwerdeverfahrens noch Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe des Regelbedarfs im Wege vorläufigen Rechtsschutzes. Sie ist bulgarische Staatsangehörige ebenso wie ihr nicht mit ihr verheirateter Lebensgefährte, der 1984 geborene Antragsteller zu 1), und ihre gemeinsamen Kinder, die 2004 und 2006 geborenen Antragsteller zu 3) und 4).

Laut Meldebescheinigung der Stadt L hält sich die Antragstellerin zu 2) seit Januar 2015 in Deutschland auf. Die Antragsteller zu 3) und 4) besuchen eine allgemeinbildende Schule. Bis zum 30.09.2016 bezogen die Antragsteller Leistungen nach dem SGB II. Der Antragsteller zu 1) übte nacheinander mehrere geringfügige Beschäftigungen aus. Vom 26.08.2016 bis zum 31.12.2016 arbeitet er aufgrund befristeter Arbeitsverträge als Zeitungsausträger. Seit dem 01.02.2017 arbeitet er als Bauhelfer 14 Stunden wöchentlich zu einem Bruttolohn von 500 Euro monatlich.

Im August 2016 beantragten die Antragsteller die Weiterbewilligung von Leistungen für die Zeit ab 01.10.2016. Mit Bescheid vom 24.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.11.2016 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Die Antragsteller zu 1) und 2) und damit auch die Antragsteller zu 3) und 4) seien von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich ihr Aufenthaltsrecht lediglich aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe.

Am 02.12.2016 haben die Antragsteller Klage erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Die Voraussetzungen für die vorläufige Leistungserbringung lägen vor. Der Antragsteller zu 1) sei freizügigkeitsberechtigt. Art und Umfang der ausgeübten Beschäftigung stünden insoweit der Annahme eines tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisses i. S. d. Rechtsprechung des EuGH nicht entgegen. Auch nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses am 31.12.2016 wirke der Arbeitnehmerstatus nach. Das Aufenthaltsrecht der Antragsteller zu 3) und 4) ergebe sich auch aus Art. 10 der Verordnung 492/11 des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU (ABI. L141 v. 27.05.2011, S. 1, nachfolgend: "VO 492/11")).

Die Antragsteller haben beim SG beantragt,

den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihnen vorläufig für die Zeit vom 02.12.2016 bis 31.03.2017 Leistungen nach dem SGB II, einschließlich Unterkunftskosten, zu zahlen.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag zur...

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