Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes für einen Unions-Neubürger mit unbeschränkt und unbefristet erteilter Arbeitsgenehmigung-EU
Orientierungssatz
1. Ist ein Unions-Neubürger im Besitz einer unbeschränkten und unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU, so hat er den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie ein deutscher Arbeitnehmer. In einem solchen Fall ist bei der Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz, wie bei Alt-Unionsbürgern, aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden.
2. Im Rahmen der Folgenabwägung ist der Bedeutung der beantragten Leistungen für den Antragsteller das fiskalische Interesse des Leistungsträgers gegenüberzustellen. Weil es sich um existenzsichernde Leistungen handelt und auch ausländischen Staatsangehörigen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zusteht, fällt bei ungeklärten Erfolgsaussichten in der Hauptsache die Interessenabwägung in der Regel zugunsten des Antragstellers aus.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15.01.2013 geändert. Der Antragsgegner wird für die Zeit vom 19.12.2012 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30.06.2013, vorläufig verpflichtet, den Regelbedarf ohne Kosten der Unterkunft im Wege der einstweiligen Anordnung zu gewähren. Der Antragstellerin wird zur Durchführung des erstinstanzlichen Rechtsschutzverfahrens ab dem 19.12.2012 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt M aus F beigeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ab dem 25.01.2013 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt M aus F beigeordnet.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im erstinstanzlichen Rechtsschutzverfahren und im Beschwerdeverfahren zu ½ dem Grunde nach.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin ist nur im tenorierten Umfang begründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).
Ab dem 19.12.2012 war der Antragsgegner im Rahmen der Folgenabwägung zur Gewährung des Regelbedarfs nach dem SGB II vorläufig zu verpflichten. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1-4 SGB II sind glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Sie ist bedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Eine Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II liegt ebenfalls vor. Sie erfüllt die Voraussetzungen des § 8 SGB II. Insbesondere kann ihr die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden (§ 8 Abs. 2 SGB II).
Ob dem Anspruch der Antragstellerin der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift besteht ein Leistungsausschluss für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel insbesondere für sog. "Alt-Unionsbürger" normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar und damit für EU-Bürger einschränkend auszulegen ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - und vom 03.04.2012 - L 5 AS 2157/11 - mit weiteren Hinweisen auf den Meinungsstand; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.05.2010 - L 7 B 489/09 AS ER). Soweit der erkennende Senat in Entscheidungen, in denen es um den Leistungsausschluss von sog. "EU-Neubürgern" ...