Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Grundsicherungsleistungen an einen zum deutschen Arbeitsmarkt zugangsberechtigten Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Ob einem litauischen Staatsangehörigen der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Dieser benötigt nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Aufnahme einer Beschäftigung keiner Arbeitserlaubnis-EU oder Arbeitsberechtigung-EU.

2. Der kategorische Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 für uneingeschränkt zum Arbeitsmarkt zugangsberechtigte Unionsbürger begegnet unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken. Nach der Entscheidung des EuGH vom 4. 6. 2009 ist es nicht zulässig, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EGV auszunehmen, vgl. EuGH, Urteil vom 04. Juni 2009 - C-22/08.

3. Hat der arbeitsuchende Antragsteller durch eine selbständig ausgeübte Vorbeschäftigung in Deutschland und eine nachfolgende Arbeitsuche seine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt glaubhaft gemacht, so stehen ihm jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens grundsätzlich alle Leistungen des SGB 2 zur Verfügung.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 15.03.2012 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit vom 26.01.2012 bis zum 31.07.2012 die Regelbedarfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu 1/2. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist teilweise begründet.

Das Sozialgericht (SG) hat zu Unrecht eine Verpflichtung des Antragsgegners abgelehnt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in dem tenorierten Umfang zu erbringen.

Die Antragsteller haben nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung vorläufig einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II). Denn sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind bezüglich der Regelbedarfe hinreichend glaubhaft gemacht worden.

Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen seit dem 26.01.2012 (Eingang des Antrages auf Erlass der einstweiligen Anordnung beim SG) vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927).

Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind bei dem Antragsteller zu 1) nach der im einstweiligen Verfahren möglichen summarischen Prüfung gegeben. Er erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II. Denn er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs.1 Nr. 2 SGB II und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Die Bedürftigkeit des Antragstellers (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) ist nach der hier gebotenen summarischen Prüfung ebenfalls glaubhaft gemacht.

Ob dem Anspruch des Antragstellers zu 1) der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, von den Leistungen ausgenommen. Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Lei...

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