Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger nach einjähriger Beschäftigung und von der Arbeitsagentur bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Arbeitnehmer. Arbeitgeberwechsel. Verfassungsmäßigkeit. Existenzminimum. Überbrückungsleistungen. Ausreiseabsicht. Prozesskostenhilfe. Hinreichende Aussicht auf Erfolg. Schwierige Rechtsfrage
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 greift nicht, wenn der Unionsbürger über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG verfügt.
2. Übt dieser keine tatsächliche Beschäftigung mehr aus, so bleibt das Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG setzt keine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als einem Jahr voraus.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 2; SGB XII § 23 Abs. 3 Sätze 1, 3; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGG §§ 73a, 75 Abs. 5; ZPO § 114
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 09.11.2017 geändert. Der Klägerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe für ein auf die Bewilligung von existenzsichernden Leistungen gerichtetes Klageverfahren.
Die am 00.00.1963 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie lebt seit Januar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin ist verheiratet, lebt aber von ihrem Ehemann, der in Bulgarien wohnt, getrennt. Sie ist derzeit obdachlos und erreichbar über den "N Selbsthilfe U eV (N eV)" in L1. Von Mai 2015 bis zum 30.09.2015 war die Klägerin als Reinigungskraft bei der Fa. Q GmbH beschäftigt. Ab 03.09.2015 war die Klägerin befristet bei der Fa. B Gebäude- und I-Service GmbH 15 Wochenstunden tätig. Das zunächst bis zum 02.03.2016 befristete Arbeitsverhältnis wurde im April 2016 in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt. Vom 20.06.2016 bis zum 26.07.2016 hatte die Klägerin Urlaub. Vom 27.07.2016 bis zum 31.07.2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 11.07.2016 kündigte die Fa. B per Einwurf-Einschreiben das Arbeitsverhältnis zum 31.07.2016. Auf Anfrage der Bevollmächtigten der Klägerin übersandte die Fa. B das Kündigungsschreiben erneut am 08.12.2016. Eine Lohnzahlung erfolgt seit August 2016 nicht mehr.
Der Beklagte bewilligte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von November 2015 bis Februar 2017. Am 17.01.2017 beantragte die Klägerin die Weiterbewilligung der Leistungen. Mit Bescheid vom 19.01.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da die Klägerin weder über einen fortbestehenden Arbeitnehmerstatus noch über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU verfüge. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, die Kündigung vom 11.07.2016 nicht erhalten zu haben. Erst mit der Übersendung an die Bevollmächtigte im Dezember 2016 sei die Kündigung wirksam geworden. Daher habe sie länger als 12 Monate in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, weshalb ihr der Arbeitnehmerstatus gem. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU erhalten bleibe.
Mit Bescheid vom 23.03.2017 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei lediglich vom 03.09.2015 bis zum 31.07.2016 ununterbrochen und somit nicht mehr als 12 Monate Arbeitnehmerin gewesen. Sie sei daher gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 18.04.2017 Klage erhoben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Sie hat ergänzend zu ihrem Vorbringen im Widerspruchsverfahren geltend gemacht, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungswidrig. Im Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren seien Leistungen jedenfalls in Anwendung von § 41a Abs. 7 SGB II zu zahlen. Hilfsweise hat sie beantragt, die Stadt L beizuladen und zu verpflichten, ihr "Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des 3. Kapitels SGB XII zu gewähren".
Einen Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 29.03.2017 abgelehnt. Mit Beschluss vom 21.06.2017 (L 12 AS 807/17 B ER) hat das LSG Nordrhein-Westfalen die Beschwerde der Klägerin zurückgewiesen.
Mit Beschluss vom 09.11.2017 hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Klägerin unterfalle dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Sie habe nur vom 03.09.2015 bis zum 31.07.2016, also weniger als 12 Monate, in einem Arbeitsverhältnis gestanden, weshalb die Arbeitnehmereigenschaft im streitigen Zeitraum nicht als fortbestehend anzusehen sei. Das Arbeitsverhältnis zur Fa. B sei wirksam zum 31.07.2016 beendet worden...