Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Voraussetzungen für einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten

 

Orientierungssatz

1. Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben ua Anspruch auf Versorgung mit Cannabis, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht.

2. Stehen für die bestehende schwere Erkrankung Standardtherapien zur Verfügung, so ist es erforderlich, dass diese im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen können.

3. Dem Vertragsarzt wird eine Einschätzungsprärogative eingeräumt, die von der Krankenkasse und im Gerichtsverfahren nur sehr begrenzt auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen ist.

4. Im Gerichtsverfahren ist allein entscheidungserheblich, ob der behandelnde Vertragsarzt eine begründete Einschätzung abgegeben hat.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 18.06.2018 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird vorläufig verpflichtet, den Antragsteller mit Cannabis bzw. Cannabinoiden nach Maßgabe vertragsärztlicher Verordnungen zu versorgen.

Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt eine Therapie mit Cannabisblüten im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.

Der bei der Antragsgegnerin gesetzlich versicherte Antragsteller beantragte erstmalig mit E-Mail vom 04.04.2017 die Kostenübernahme für eine Behandlung mit Cannabisblüten. Mit Bescheid vom 25.05.2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Köln (S 21 KR 1035/17 ER) gab die Antragsgegnerin wegen § 13 Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ein Anerkenntnis dahingehend ab, den Antragsteller für den Zeitraum 04.04.2017 bis 03.04.2018 vorläufig entsprechend ärztlicher Verordnung mit Medizinal-Cannabisblüten zu versorgen.

Am 13.03.2018 beantragte der behandelnde Arzt (Dipl. med. I) neuerlich eine Cannabisblüten-Therapie. Die Antragsgegnerin beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit einem Gutachten und teilte dies dem Antragsteller zeitgleich mit. Mit Bescheid vom 13.04.2018 lehnte sie den Antrag ab. Zur Begründung bezog sie sich auf das Gutachten des MDK vom 13.04.2018, wonach bei der bestehenden multiplen Sklerose (MS) mit sekundär-chronischem Verlauf und einer rezidivierenden Depression die Gabe von Cannabis nicht angezeigt sei. Zudem seien bislang Baclofen und Sirdalud nicht in der zulässigen Höchstdosis verabreicht worden. Die Behauptung des Antragstellers, Sativex verursache bereits ohne Höchstdosierung Schleimhautreizungen, sei nicht plausibel. Den hiergegen gerichteten Widerspruch hat die Antragsgegnerin am 03.08.2018 zurückgewiesen.

Bereits am 17.05.2018 hat der Antragsteller beim SG um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er habe Sativex schon im Januar 2013 verordnet bekommen und bis zur Höchstdosis eingenommen. Das Medikament sei ihm auf die Mundschleimhaut geschlagen. Eine Reduktion der Dosierung habe nicht geholfen. Infolge der Therapie mit Cannabisblüten gehe es ihm deutlich besser (wird ausgeführt). Die Versorgung mit Cannabis sei günstiger als jene mit gängigen Medikamenten. Er fühle sich genötigt, wieder Morphin und Opium einzunehmen, wolle jedoch nicht abhängig von Tabletten werden.

Der Antragsteller hat beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Kostenübernahme für eine Therapie mit Cannabis bzw. Cannabinoiden zu verpflichten.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass eine besondere Dringlichkeit nicht glaubhaft gemacht sei. Der Antragsteller habe nicht nachgewiesen, dass durch die begehrte Versorgung die bestehenden Leiden besser und nachhaltiger als mit schulmedizinischen Behandlungsmethoden behandelt werden könnten. Eine Notfallsituation liege nicht vor. Es stünden andere Arzneimittel zur Verfügung. Insbesondere habe der Antragsteller nicht hinreichend belegt, warum Sativex nicht in der Höchstdosis eingesetzt werde. Aus der Behandlungsdokumentation gehe hervor, dass bislang 2-5 Hübe täglich verabreicht worden seien, obwohl schrittweise auf bis zu 12 Hübe erhöht werden könne.

Das SG hat einen Befundbericht des behandelnden Facharztes für Neurologie Dipl. med. I vom 12.06.2018 beigezogen und den Antrag mit Beschluss vom 18.06.2018 abgelehnt. Es fehle schon am Anordnungsgrund. Ein solcher sei nur dann gegeben, wenn aus den glaubhaft gemachten Tatsachen folge, dass es die individuelle Interessenlage des Antragstellers unzumutbar erscheinen lasse, ihn auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Ob die Anordnung derart dringlich sei, beurteile sich insbesondere danach, ob sie nötig sei, um unmittelbar bevorstehende wesentliche Nachteile, drohende Gewalt oder andere ebenso schwerwiegende Gefahren abzuwenden. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Unter Berücksichtigung des Befundberichts von ...

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