Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer. Leistungsanspruch bei mindestens fünfjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet. Fristbeginn mit Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. teleologische Reduktion bei fehlender Meldepflicht. Überbrückungsleistungen. andere Leistungen für einen längeren Zeitraum. Vorliegen einer besonderen Härte. Ausreisebereitschaft
Orientierungssatz
1. Zu den Anforderungen an das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft iS des § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU bzw des Art 45 AEUV.
2. Der Anwendung der Rückausnahme nach § 23 Abs 3 S 7 SGB 12 steht die fehlende Anmeldung bei einer Meldebehörde gem § 23 Abs 3 S 8 SGB 12 in den Fällen nicht entgegen, in denen eine Meldepflicht nicht besteht (vgl LSG Essen vom 5.5.2021 - L 9 SO 56/21 B ER = SAR 2021, 62).
3. Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest, dass § 23 Abs 3 S 3, 5 und 6 SGB 12 in tatsächlicher Hinsicht mindestens eine Ausreisebereitschaft des Ausländers voraussetzt (vgl LSG Essen vom 6.10.2021 - L 12 AS 1004/20 = juris RdNr 81).
4. Allerdings entfällt bei faktischer Unmöglichkeit der Ausreise - etwa infolge gesundheitlicher Einschränkungen - die Notwendigkeit eines Ausreisewillens in verfassungskonformer Weise im Hinblick auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 S 1 GG), die mit einer entsprechenden staatlichen Schutzpflicht korrespondieren.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.09.2022 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.
Dem Antragsteller wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens für die Zeit ab dem 28.11.2022 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt R aus E beigeordnet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Kostenübernahme für eine stationäre Unterbringung in einem Pflegeheim.
Der am 00.00.1961 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsbürger und hier in Deutschland ohne festen Wohnsitz. Er lebt eigenen Angaben nach seit 1994 in Deutschland, hat sechs Monate lang als Reifenspezialist gearbeitet und war danach - bis auf den Verkauf des Straßenmagazins "fiftyfifty" und das Sammeln von Pfandflaschen - nicht mehr arbeitstätig. Am 13.01.2016 richtete er eine Postadresse bei dem Magazin "fiftyfifty" in E ein, die behördlich nicht angemeldet wurde.
Im April 2021 zog der Antragsteller zu einer aus Polen stammenden Bekannten namens A, die ihn unentgeltlich bei sich in der Wohnung aufnahm und pflegte.
Am 20.12.2021 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Hilfe zur Pflege.
In einem Gutachten zur Ermittlung des Pflegegrades vom 25.01.2022 teilte der Pflegefachdienst der Antragsgegnerin mit, dass beim Antragsteller ein Pflegegrad 2 festzustellen sei. Als pflegerelevante Diagnosen wurden eine beidseitige Gonarthrose und eine kalsifizierende 3-Gefäßerkrankung genannt. Ab April 2022 werde ihm die jetzige Wohnung nicht mehr zur Verfügung stehen (weil Frau A ihre Wohnung auflösen und nach Polen zurückkehren wollte); eine Heim- bzw. WG-Notwendigkeit sei dann gegeben. Im Übrigen wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 21.02.2022 gewährte die Antragsgegnerin dem Antragsteller rückwirkend Pflegegeldleistungen für den Zeitraum vom 09.12.2021 bis 31.03.2022. Um Pflegegeldleistungen ab dem 01.04.2022 beziehen zu können, benötige er von der zuständigen Ausländerbehörde in E einen Nachweis über seinen Aufenthaltsstatus und einen Nachweis über seinen Wohnort.
Der Antragsteller reichte daraufhin eine Bescheinigung des Amtes für Migration und Integration der Antragsgegnerin vom 24.02.2022 ein, wonach der Antragsteller seit dem 24.02.2022 ununterbrochen in Deutschland gemeldet sei. Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) bestehe noch nicht.
Bereits am 09.12.2021 hatte der Antragsteller beim Jobcenter Düsseldorf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beantragt. Mit Bescheid vom 19.01.2022 in der Gestalt eines Widerspruchsbescheides vom 21.02.2022 lehnte das Jobcenter diesen Antrag ab. Eine Klage erhob der Antragsteller dagegen nicht. Am 03.03.2022 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) einen Eilantrag, mit dem er vorläufig Leistungen nach dem SGB II begehrte. Das SG lehnte den Antrag mit Beschluss vom 24.03.2022 (Az.: S 19 AS 449/22 ER) ab. Zur Begründung führte es aus, dass der Antragsteller von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SG II ausgeschlossen sei. Er besitze kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU; der Aufenthalt sei erst zum 24.02.2022 festgestellt worden. Ein Freizügigkeitsrecht bestehe auch nicht nac...