Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft ist die Höhe der Vergütung und die Dauer der Berufstätigkeit unerheblich, soweit die Tätigkeit nicht so einen geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Das liegt aber nicht schon vor, wenn jemand den Lebensunterhalt zusätzlich durch öffentliche Mittel bestreitet.
2. Ein Aufenthaltsrecht kann sich auch für die Dauer des Schulbesuchs der Kinder ergeben.
Normenkette
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, 2 Nrn. 1, 3
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.10.2022 geändert.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 29.09.2022 bis zum 31.03.2023 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragsgegners bzw. der Beigeladenen, den Antragstellern ab 29.09.2022 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, dem AsylbLG oder dem SGB XII zu zahlen.
Die 1970 und 1976 geborenen Antragsteller zu 1) und 2) sind die Eltern der am 00.00.2012 und 00.00.2011 geborenen Antragstellerinnen zu 3) und 4). Die Antragsteller sind rumänische Staatsbürger. Sie sind 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie wohnen zur Miete in H, O-Straße 29. Die monatliche Gesamtmiete beträgt 730 EUR (440 EUR Kaltmiete, 100 EUR Betriebskosten, 190 EUR Heizkosten). Die Vermieter haben den Mietvertrag nach §§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3a, 569 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 BGB wegen Nichtzahlung der Kaltmiete incl. Betriebskosten von November 2022 bis Januar 2023 i.H.v. insgesamt 1620 EUR fristlos gekündigt.
Die Antragstellerin zu 3) besucht die B-Schule, die Antragstellerin zu 4) die F-Schule - jeweils in H (Schulbescheinigungen vom 06.12.2022 und vom 05.04.2022). Der Antragsteller zu 1) arbeitete seit 21.02.2022 bei der Firma E GmbH als Helfer "Lagerwirtschaft und Transport - Kommissionieren von Pflanzen" 100 Stunden monatlich zu einem Stundenlohn von 10,45 EUR. Am 03.06.2022 schlossen die Firma E GmbH und der Antragsteller zu 1) eine Änderungsvereinbarung vom 03.06.2022, wonach die monatliche Arbeitszeit in dem unbefristeten Arbeitsverhältnis seit 01.06.2022 auf 151,67 Stunden erhöht wurde. Wegen der Einzelheiten wird auf die auf Anforderung des Senats eingereichten Lohnabrechnungen von Juli 2022 bis November 2022, den Arbeitsvertrag, die Änderungsvereinbarung sowie hinsichtlich des Zuflusses und der Höhe des Lohnes auf die im Beschwerdeverfahren eingereichten Kontoauszüge Bezug genommen. Das Arbeitsverhältnis wurde von der Firma E GmbH zum 15.12.2022 betriebsbedingt gekündigt.
Die Antragsteller standen beim Antragsgegner im Leistungsbezug. Die mit Bescheid vom 26.01.2022 erfolgte Bewilligung von Alg II für die Zeit von Januar 2022 bis Juli 2022 an die Antragsteller hob der Antragsgegner wegen Erzielung von Einkommen des Antragstellers zu 1), das die Hilfebedürftigkeit der Antragsteller verringere, aber nicht beseitige, nach § 48 SGB X für die Zeit ab Mai 2022 vollständig auf. Mit weiterem Bescheid vom 25.04.2022 bewilligte der Antragsgegner für die Zeit von Mai 2022 bis Juli 2022 wegen Erzielung von Einkommen vorläufig nach § 41a Abs. 1 SGB II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. 1.024,26 EUR.
Mit Ordnungsverfügungen vom 02.05.2022 stellte das Ausländeramt den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerinnen nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU fest und ordnete deren sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Ziffer 4 VwGO an. Die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1, 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU erfülle der Antragsteller zu 1) im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht, so dass er nicht als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt sei. Anhaltspunkte dafür, dass während des Aufenthaltes von sieben Jahren sich der Antragsteller zu 1) ernsthaft um einen Arbeitsplatz bemüht habe, seien nicht erkennbar. Die vom Antragsteller zu 1) ausgeübte Tätigkeit begründe keine Arbeitnehmereigenschaft. Unterstellt, die ausgeübte Teilzeittätigkeit von 100 Stunden monatlich begründe eine unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft, könne sich der Antragsteller zu 1) nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Die Geltendmachung eines auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gestützten Freizügigkeitsrechts stelle sich als rechtsmissbräuchlich dar. Der Antragsteller habe nie beabsichtigt, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die der Familie ausreichende Existenzmittel sichere. Von den schulpflichtigen Kindern, den Antragstellern zu 3) und 4), könne auch kein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden. Der Annahme eines Freizügigkeitsrechts nach Art. 10 Abs. 1 VO(EU) Nr. 492/2011 stehe entgegen, dass es sich bei der Bezugsperson, d.h. dem Elter...