Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Entschädigungsklage. Störung des Gerichtsbetriebs durch COVID-19-Pandemie. Phase gerichtlicher Inaktivität im März und April 2020 sowie von Dezember 2020 bis März 2021. erster und zweiter Corona-Lockdown. keine dem Staat zurechenbare Verzögerungszeit. Kammerwechsel. 6-Wochen-Frist für freigestellte Stellungnahmen. keine zwingende Verkürzung der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit bei Untätigkeitsklagen
Orientierungssatz
1. Die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten in dieser Form und diesem Ausmaß vollständig neuartigen Bedrohungen in den Monaten März und April 2020 haben zu einer Einschränkung des gesamten Justizbetriebes geführt, die nicht in den staatlichen Verantwortungsbereich fällt (ebenso, allerdings unter Einschluss des Monats Mai: LSG Berlin-Potsdam vom 20.1.2023 - L 37 SF 298/21 EK AS = NJ 2023, 225 und L 37 SF 71/22 EK SO).
2. In den Monaten Dezember 2020 bis März 2021 war die Infektionslage so angespannt, dass der Verzicht auf die Durchführung von Sitzungen grundsätzlich nicht als Verzögerung dem Beklagten zuzurechnen ist (Abweichung von LSG Berlin-Potsdam vom 20.1.2023 - L 37 SF 83/22 EK R).
3. Die mit einem Kammerwechsel verbundenen Verfahrensverlängerungen sind dagegen der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzurechnen (vgl dazu BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R = BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22).
4. Im Anschluss an die Übersendung von Schriftsätzen zur Kenntnisnahme unterliegt es der Einschätzungsprärogative des Ausgangsgerichts, für einen Zeitraum von sechs Wochen auf eine Reaktion zu warten und keine weiteren Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, ohne dass dies vom Entschädigungsgericht als Verfahrensverzögerung zu bewerten ist (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16 und vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R aaO).
5. Die zwölfmonatige Vorbereitungs- und Bedenkzeit ist für Untätigkeitsklagen nicht zwingend zu verkürzen (Abweichung von LSG Berlin-Potsdam vom 9.6.2021 - L 37 SF 271/19 EK AS = NJ 2021, 519 und vom 20.1.2023 - L 37 SF 71/22 EK SO).
6. Teilweise parallel zur Entscheidung des LSG Essen vom 2.8.2023 - L 11 SF 262/22 EK AS.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 1.400,00 EURO festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 16 AS 4797/19 geführten Verfahrens (im Folgenden: Ausgangsverfahren).
Im Ausgangsverfahren erhob der Kläger am 19. Dezember 2019 Untätigkeitsklage und begehrte die Verurteilung des Jobcenters M. zur Bescheidung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 28. Mai 2014. Mit diesem hatte das Jobcenter die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) abgelehnt.
Das Verfahren wurde im Erörterungstermin vom 3. Juni 2022 durch Abgabe wechselseitiger Erklärungen beendet, wegen deren Einzelheiten auf die beigezogene Verfahrensakte des Ausgangsverfahrens Bezug genommen wird. Das Verfahren stellt sich chronologisch wie folgt dar:
|
Datum |
Bl. GA |
Beteiligter |
Aktivität |
19.12.2019 |
1 |
Kl |
Klageeingang |
02.01.2020 |
8 |
SG |
Eingangsverfügung |
06.01.2020 |
10R |
SG |
Mitteilung Aktenbeiziehung |
27.01.2020 |
11 |
Bekl |
Klageerwiderung: "Es fehlen Unterlagen" |
11.02.2020 |
11R |
SG |
Übersendung z. St. |
15.02.2020 |
12 |
Kl |
Stellungnahme |
17.02.2020 |
14R |
SG |
Übersendung z.K. |
02.05.2020 |
13R |
SG |
Anfrage an Bekl, ob Unterlagen nunmehr vorliegen |
29.06.2020 |
14 |
SG |
Erinnerung Bekl |
30.07.2020 |
14R |
SG |
Erneute Ausführung der Verfügung vom 2. Mai 2020 gegen EB (EB vollzogen am 3. August 2020) |
20.08.2020 |
15R |
SG |
WV 29.09.2020 |
07.09.2020 |
17 |
Bekl |
Stellungnahme: "Verwirkung eingetreten" |
11.09.2020 |
17R |
SG |
Übersendung z. St. |
16.09.2020 |
18 |
Kl |
Stellungnahme |
19.09.2020 |
20 |
Kl |
Stellungnahme |
22.09.2020 |
21R |
SG |
Übersendung z.K. + evtl. St |
03.11.2020 |
21R |
SG |
WV 01.02.2021 |
01.02.2021 |
22 |
SG |
WV 01.05.2021 |
06.05.2021 |
22R |
SG |
WV 01.07.2021 |
16.08.2021 |
22R |
SG |
WV 05.10.2021 |
05.10.2021 |
23R |
SG |
WV 10.11.2021 |
11.11.2021 |
23R |
SG |
Nicht lesbar |
08.02.2022 |
24 |
SG |
WV 4 Wochen (schwer lesbar) |
17.02.2022 |
25 |
Kl |
Verzögerungsrüge |
10.03.2022 |
26 |
SG |
Ladung zum Termin 25.03.2022 |
23.03.2022 |
29 |
SG |
Terminsaufhebung auf Wunsch des Klägers (Verweis auf Schreiben in Verfahren S 16 AS 517/22=S 16 AS 2951/19 ) |
12.04.2022 |
32 |
SG |
Ladung zum VT 03.06.2022 |
03.06.2022 |
37 |
SG |
ET: Erledigung |
Der Kläger hat am 19. Oktober 2022 Entschädigungsklage erhoben, die dem Beklagten am 19. Dezember 2022 zugestellt worden ist. Er macht geltend, dass es in dem Ausgangsverfahren zu folgenden Inaktivitätszeiten gekommen sei:
- 2020: April, Juli und August sowie November und Dezember (5 Monate)
- 2021: Januar bis einschließlich Dezember (12 Monate)
- 2022: Januar und Februar sowie Mai (3 Monate), insgesamt 20 Monate.
Das Verfahren habe für ihn eine überdurchschnittliche Bedeutung gehabt. Mit der Untätigkeitsklage habe er die Bescheidung seines Wid...