Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. längerer Auslandsaufenthalt. Territorialitätsprinzip. gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland. Sozialhilfe für Deutsche im Ausland. Leistungsausschluss nur bei Nichtbestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland. abweichende Festlegung des individuellen Bedarfs. erhebliche Abweichung vom durchschnittlichen Bedarf. geringere Lebenshaltungskosten. Gegenrechnung der Reisekosten
Leitsatz (amtlich)
1. Zum gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 41 Abs 1 SGB XII bei längeren Auslandsaufenthalten.
2. Zur Frage einer abweichenden Bedarfsbemessung (§ 28 Abs 1 S 2 SGB XII aF, heute § 27a Abs 4 S 1 SGB XII) bei längerem Auslandsaufenthalt.
3. Bleibt bei längerem Auslandsaufenthalt der gewöhnliche Aufenthalt (§ 41 Abs 1 SGB XII) des Leistungsberechtigten in Deutschland bestehen, so bleibt sein Leistungsanspruch erhalten. Ein Prinzip, wonach die Regelsatzleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII nur kurzfristig oder gar nicht für Ausgaben im Ausland verwendet werden dürfen, ist dem SGB XII nicht zu entnehmen. Die Möglichkeit zu längeren Auslandsaufenthalten, die im Vergleich zum Aufenthalt in Deutschland keinerlei Sozialhilfemehrkosten verursachen, ist vom Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art 2 Abs 1 GG) umfasst. Begrenzt wird diese Freiheit im SGB XII allein durch § 24 Abs 1 S 1 SGB XII und damit nur, wenn kein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland mehr besteht.
Orientierungssatz
Die gleichzeitige Begründung zweier gewöhnlicher Aufenthalte ist rechtlich und tatsächlich möglich (vgl BSG vom 28.7.1967 - 4 RJ 411/66 = BSGE 27, 88 = SozR Nr 5 zu § 1319 RVO).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Tenor des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Düsseldorfs vom 11.04.2014 neu gefasst: Der Bescheid vom 11.05.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2011 wird aufgehoben, soweit die Beklagte darin den Bescheid vom 22.06.2009 für die Zeit vom 01.01. bis zum 31.03.2010 teilweise aufgehoben und Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII unter Zugrundelegung des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes i.H.v. monatlich lediglich 64,62 EUR gewährt hat. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger weitere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Monate Februar und März 2010 i.H.v. jeweils 294,38 EUR zu zahlen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine teilweise Aufhebung der Bewilligung von Regelsatz-Leistungen, die dem Kläger im Rahmen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für die Monate Januar bis März 2010 zuerkannt worden waren.
Der am 00.00.1943 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Eine formale Ausbildung hat er nicht absolviert. Während seines Berufslebens war er im Wesentlichen im kaufmännischen Bereich tätig, zunächst als Angestellter in einer Spedition. Von 1970 bis 1980 führte er gemeinsam mit seinem Bruder als Selbständiger ein Geschäft für Rollläden und Markisen; anschließend betrieb er bis etwa 1998 selbständig eine Versicherungsagentur. Während seiner Selbständigkeit baute er keine Alterssicherung auf; hierzu fehlten ihm nach seinen Angaben die Mittel. Der Kläger ist seit 1973 geschieden. Er bewohnt allein eine seiner Schwägerin gehörende, 41m² große Mietwohnung in X. Nach seinen Angaben hat er an seinem Wohnort keine näheren Bekannten; zu seinem dort lebenden Bruder und seiner Schwägerin hält er in beschränktem Umfang Kontakt.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund bewilligte dem Kläger ab dem 01.08.2008 Regelaltersrente (Bescheid vom 03.07.2008). Im ersten Quartal 2010 belief sich der monatliche Rentenzahlbetrag auf 201,72 EUR. Der Kläger verfügte im Jahr 2010 über keine weiteren Einkünfte oder über Vermögen, das bei Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zu berücksichtigen gewesen wäre.
Seit 2004 reiste der Kläger regelmäßig für längere Zeit von Deutschland nach Thailand. Hin- und Rückflug buchte er jeweils zugleich vor Reiseantritt. Nach den Einträgen in seinen Reisepässen ergeben sich folgende Aufenthaltszeiträume in Thailand (teils unterbrochen durch kurzzeitige Zwischenaufenthalte in Kambodscha oder Myanmar): 20.01. bis 16.02.2004, 14.01. bis 13.03.2005, 13.01. bis 09.04.2006, 12.01. bis 08.04.2007, 11.01. bis 08.04.2008, 17.10.2008 bis 12.04.2009, 04.10.2009 bis 31.03.2010, 27.11.2011 bis 25.03.2012, 30.11.2012 bis 27.03.2013, 02.12.2013 bis 28.01.2014, 01.12.2014 bis 01.03.2015 und 02.12.2015 bis 28.02.2016. Im Laufe der Zeit schloss der Kläger in Thailand Freundschaft mit anderen dort dauerhaft oder vorübergehend lebenden Landsleuten (teils auch aus Österreich und der Schweiz). Zwei dieser Freunde gewährten ihm die Möglichkeit, kostenfrei bei ihnen zu wohnen.
Im Anschluss an den Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (bis Juli 2008) bewilligte die Beklagte dem Kläger - zunächst für ...