Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. Gerichtsbescheid. Anspruch auf gesetzlichen Richter. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe in Wohnheim. Einrichtungsbegriff. sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers. notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen keine eigenständige Hilfeart

 

Orientierungssatz

1. Führt bereits der Umfang der notwendigen Aufklärung zu einer besonderen tatsächlichen Schwierigkeit der Sache iS des § 105 Abs 1 S 1 SGG, so stellt eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid eine Verletzung des grundrechtlichen Anspruchs auf den gesetzlichen Richter dar. Auch der Hinweis des Gerichts auf das "Einverständnis der Beteiligten" zu der Entscheidung durch Gerichtsbescheid schließt diesen Verfahrensfehler nicht aus.

2. Eine Einrichtung iS des § 13 Abs 2 SGB 12 muss nicht in der Lage sein, einen Vollaufenthalt zu gewährleisten. Bietet eine Einrichtung einen Vollaufenthalt, ist dies umgekehrt noch kein hinreichendes Kriterium für die Einrichtungseigenschaft des Hauses. Hinzu kommen muss vielmehr eine nach dem subjektiven Hilfebedarf des Leistungsberechtigten bestehende Einrichtungsbetreuungsbedürftigkeit (vgl BVerwG vom 2.10.2003 - 5 C 24/02 = ZFSH/SGB 2004, 174). Dabei muss die Einrichtung die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Leistungsberechtigten übernehmen.

3. Diese Beurteilung hinsichtlich des subjektiven Hilfebedarfs und der gewährten Hilfe ist jeweils einzelfallbezogen festzustellen.

4. Erfolgt die Unterbringung des Hilfebedürftigen in einer Einrichtung lediglich zum Zweck der zustandserhaltenden Beheimatung, weil eine Besserung der Teilhabemöglichkeiten des Hilfebedürftigen iS einer Änderung seines gesundheitlichen und sozialen Status quo nicht mehr zu erwarten ist, so genügt auch dies für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gem § 53 Abs 1 S 1 SGB 12.

5. Eine weite Beschreibung der Aufgaben und Ziele der Eingliederungshilfe kann dazu führen, dass sie - etwa bei Pflegebedürftigkeit - lebenslang zu gewähren ist.

6. Die Vorschrift des § 35 SGB 12 regelt von vornherein keine - gegenüber den §§ 53ff SGB 12 -eigenständige Hilfeart, die die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers gem § 97 Abs 2 S 1 SGB 12 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 Buchst a SGB12 AGAV NW entfallen ließe. Vielmehr regelt sie nur den Leistungsumfang von Leistungen nach §§ 27ff SGB 12 als Sonderfall, wenn die Hilfe zum Lebensunterhalt in einer Einrichtung erbracht wird. Dementsprechend enthält § 35 SGB 12 auch nähere Regelungen zur Bestimmung des Lebensunterhalts, wenn in Einrichtungen Eingliederungshilfe erbracht wird.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 23.06.2006 aufgehoben. Der beigeladene Landschaftsverband Rheinland wird nach § 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz verurteilt, die Kosten für die Unterbringung des Klägers im Haus O, Reken, für den Zeitraum 01.07. bis 30.11.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu tragen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der beigeladene Landschaftsverband Rheinland trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Kosten der Unterbringung des Klägers im Haus O, Reken, für die Zeit vom 01.07. bis 30.11.2005 (7.763,43 EUR). Der am 00.00.1941 geborene Kläger war in dieser Zeit 63 bzw. 64 Jahre alt.

Der Kläger, der zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Essen hatte, lebt seit dem 12.01.1982 ununterbrochen im Haus O in Reken, in dem der Verein für katholische Arbeiterkolonien in Westfalen Wohnheime, Betriebsstätten und ein Altenheim unterhält; das Haus ist eine vollstationäre Einrichtung der Wohnungslosen- und Gefährdetenhilfe. Im Anschluss an seine Ehescheidung 1976 und aufgrund diverser persönlicher Probleme geriet sein Leben nach Angaben des Klägers aus den Fugen, und er begann zu trinken. Seit Vollendung des 65. Lebensjahres bezieht er eine Altersrente von gut 600,00 EUR; weitere Einkünfte oder Vermögen hat er nicht.

Nachdem zunächst der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) nach § 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und ab 01.08.1992 der (vom Senat zu 2. beigeladene) Kreis Borken mit Schreiben vom 26.08.1993 bis zur Klärung der Kostenträgerschaft nach § 97 BSHG vorläufig ab dem 01.08.1992 Hilfe gewährt hatten, übernahm die beklagte Stadt Essen nach einer Kostengarantie vom 06.05.1994 seit dem 01.04.1994 die Kosten für die Unterbringung im Haus O im Rahmen der Sozialhilfe.

Mit einem Sozialbericht vom 02.08.2004 teilte das Haus O der Beklagten mit, der Kläger bewohne seit 2002 ein Einzelzimmer in der Wohngruppe "U" (seit März 2005 wohnt der Kläger ausweislich der Angaben des Zeugen W im Ortstermin des Senats vom 18.10.2007 allerdings nicht mehr in dieser Wohneinheit, sondern in einem Einzelzimmer der Einrichtung). Er sei in die tagesstrukturierende Maßnahme der dortigen Montagewerkstatt eingebunden. Wegen seiner Behinderung - Grad der Behinderung (GdB) von 70 - bes...

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