Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Sehstörungen mit unklarer Ursache. keine Erklärung durch morphologischen Befund. Nachweis der Funktionsstörung aufgrund der Krankengeschichte. feststehende Behinderung. fehlende ophthamologische Diagnose. keine unmittelbare Anwendung des Teil B Nr 4 VMG. Berücksichtigung in Analogie zu Störungen des Sehorgans

 

Orientierungssatz

1. Befunde für eine Diagnose auf augenärztlichem Fachgebiet und die Diagnose als solche mögen für die insoweit notwendigen Feststellungen im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erhalten; sie sind aber nicht Voraussetzung dafür, eine festgestellte Beeinträchtigung überhaupt bei der Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) berücksichtigen zu können.

2. Den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG, Anlage zu § 2 VersMedV) ist nicht die rechtliche Vorgabe zu entnehmen, dass Sehstörungen nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn ein entsprechendes morphologisches Korrelat nicht festgestellt werden kann.

3. Ohne eindeutigen Anknüpfungspunkt ist der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen (hier: Teil B Nr 4 VMG).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 27.10.2022; Aktenzeichen B 9 SB 4/21 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24.10.2017 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht der Grad der Behinderung (GdB) wegen einer Beeinträchtigung der Sehfähigkeit der Klägerin im Streit.

Die am 00.00.1997 geborene Klägerin ist das zweitälteste Kind in einer Reihe von fünf Geschwistern. Wegen zunehmender Funktionsstörungen im Bereich des Sehens erhielt sie während des Schulbesuchs u.a. sonderpädagogische Förderungen. Neben der Schule betrieb sie Leistungssport (Turmspringen). Nach dem Realschulabschluss durchlief sie ab 2015 im Berufsförderungswerk N eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Seit 2018 ist sie in einer Vollzeittätigkeit als Physiotherapeutin für schwerstmehrfachbehinderte Kinder an der M-Schule in E tätig. Bei zwei ihrer (jüngeren) Brüder ist ebenfalls eine ähnliche Entwicklung bezogen auf eine Verschlechterung der Sehfunktion zu beobachten (Gesichtsfelddefekte). Der Klägerin wurden mittlerweile sog. Blindenstöcke und ein Mobilitätstraining verordnet.

Durch Bescheid vom 22.01.2013, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 13.02.2013, stellte die Beklagte einen GdB von 30 fest. Dabei stützte sie sich auf eine gutachtliche Stellungnahme vom 23.02.2013, wonach eine Sehstörung sowie ein eingeschränktes funktionales Sehen - individueller Umgang mit dem Sehvermögen in alltäglichen Situationen - im schulischen Bereich, psychische Beeinträchtigungen, Hilfsmittelversorgung und sonderpädagogische Förderung jeweils mit einem GdB von 20, der Gesamt-GdB mit 30 bewertet wurden. Die hiergegen gerichtete Klage nahm die Klägerin nach Beweisaufnahme (Gutachten der Sachverständigen Dr. A, Oberärztin der Untersuchungsstelle für Sehbehinderte im Zentrum für Augenheilkunde des Universitätsklinikums F vom 30.09.2014) zurück (Sozialgericht (SG) Aachen S 3 SB 285/13).

Am 16.09.2015 beantragte die Klägerin, den GdB höher festzusetzen. Sie leide an einem okulokutanen Albinismus, einer Akkomodationsschwäche, hohen Einschränkungen des funktionalen Sehens, einer hohen Blendempfindlichkeit und einem auf 0,2/0,25 bzw. 0,06/0,1 reduzierten Nah-/Fernvisus. Nach Auswertung des beigefügten Arztbriefs der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T vom 15.07.2015 hob die Beklagte den GdB auf 40 an. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, allein der durch den o.a. Arztbrief belegte eingeschränkte Fernvisus bedinge einen GdB von 40. Unter Berücksichtigung der weiteren angegebenen Beeinträchtigungen ergebe sich ein GdB von insgesamt 70. Nach Einholung einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme wies die Bezirksregierung den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 zurück.

Mit ihrer hiergegen am 23.05.2016 erhobenen Klage hat die Klägerin unter Vorlage eines weiteren Arztbriefs des Universitätsklinikums T über eine Untersuchung durch Frau Prof. Dr. B am 03.09.2016 ihr Begehren weiterverfolgt. Es liege eine Sehstörung vor, deren Ursache noch nicht festgestellt worden sei. Jedenfalls sei aber ausweislich der vorgelegten Stellungnahme der LVR-Kliniken vom 08.06.2017 eine psychogene Ursache auszuschließen. Mit Blick auf Teil B Nr. 4 VMG sei - so die Klägerin - zwar auf das Vorliegen eines morphologischen Korrelats zu achten. Die Sehstörung sei aber bislang nie angezweifelt worden, so dass die Anforderungen an den Nachweis einer Ursache einer Sehschwäche nicht überbewertet werden dürften.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 17.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 zu verpflichten, bei der Klägerin für die Zeit vom 03.09.2016 bis zum 12.0...

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