Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Musiktherapie für einen behinderten Menschen
Orientierungssatz
1. Ein behinderter Mensch hat im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs.1 S.1 Nr.1 SGB 12 u. a. Anspruch auf die Übernahme von Kosten für Musiktherapie, wenn positiv festgestellt werden kann, dass deren Gewährung zu einer Linderung der Behinderungsfolgen beiträgt.
2. Die Einstandspflicht des Leistungsträgers scheitert nicht daran, dass die angefallenen Kosten bereits gezahlt sind. Zwar setzen Sozialhilfeleistungen einen aktuellen Bedarf voraus. Dies gilt allerdings aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht bei einer rechtswidrigen Ablehnung der Hilfegewährung und zwischenzeitlicher Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, wenn der Hilfesuchende innerhalb der gesetzlichen Fristen einen Rechtsbehelf eingelegt hat und die Hilfegewährung erst erstreiten muss.
3. Vorrangig besteht für die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Musiktherapie für ein behindertes Kind, welches eine Förderschule für geistige Entwicklung besucht, gemäß § 10 Abs. 4 SGB 8 eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers.
4. Eine heilpädagogische Maßnahme in Form von Musiktherapie ist übernahmefähig, wenn die Maßnahme im konkreten Fall erforderlich und geeignet ist, dem behinderten Menschen den Schulbesuch zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Stellt die Musiktherapie einen wesentlichen Beitrag zur Minderung der bestehenden Behinderung dar, so besteht eine Einstandspflicht des Sozialhilfeträgers.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.09.2010 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten der von Oktober 2008 bis Juni 2010 erhaltene Musiktherapie in Höhe von 2680,00 EUR zu erstatten.
Die Beklagte trägt die notwendigen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von Musiktherapie und die Erstattung der dafür in der Zeit von Oktober 2008 bis Juli 2010 aufgewendeten Kosten in Höhe von 2.680,00 EUR.
Der am 00.00.1999 geborene Kläger leidet (u. a.) an einer überaktiven (psychomotorischen) Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien. Er besucht seit Sommer 2006 die "S-schule" T (Förderschule für geistige Entwicklung). Er ist bei der O BKK gesetzlich krankenversichert. Bis zum 3. Lebensjahr erhielt der Kläger ergotherapeutische Behandlung; seit Jahren und bis heute erhält er laufend logopädische und physiotherapeutische Behandlung; diese Therapien wurden und werden von der gesetzlichen Krankenkasse gewährt. Seit dem 4. Lebensjahr erhält der Kläger auch Reittherapie. Deren Kosten wurden ein Jahr lang vom Sozialhilfeträger aus der Eingliederungshilfe übernommen, danach jedoch abgelehnt; seitdem tragen die Eltern des Klägers die Kosten der Reittherapie.
Am 13.10.2006 beantragte der Kläger erstmals Eingliederungshilfe in Form von Musiktherapie. Er legte dazu befürwortende Bescheinigungen des C-Krankenhauses T vom 20.06.2006 und der S-schule vom 26.03.2007 vor. Nach Einholung einer Stellungnahme von Dr. N vom Gesundheitsamt bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 08.06.2007 die Eingliederungshilfe für ein Jahr mit der Begründung, die Musiktherapie sei geeignet und erforderlich, die Folgen der Behinderung zu beseitigen oder zumindest zu mindern. Von August 2007 bis Juni 2008 (= Schuljahr 2007/08) rechnete die Musiktherapeutin 43 Sitzungen à 40,00 EUR, insgesamt 1.720,00 EUR mit der Beklagten ab.
Am 08.07.2008 beantragte der Kläger weitere Musiktherapie. Er legte hierzu einen Verlaufsbericht seiner Musiktherapeutin vom 01.07.2008 vor. In einer Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom 04.09.2008 kam Dr. N zum Ergebnis, es bestehe keine Notwendigkeit für die Fortführung der Musiktherapie, ein Jahr sei ausreichend.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 22.09.2008 ab.
Dagegen legte der Kläger am 13.10.2008 Widerspruch ein. Er trug vor, die Musiktherapie diene nach wie vor dazu, die schwerwiegenden Folgen der Behinderung zumindest zu mildern; sie helfe auch, elementare Dinge des Lebens zu erlernen, Kontakt zu Mitmenschen aufzunehmen, Ausdauer zu fördern und Aggressionen abzubauen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 28.04.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, beim Kläger bestehe eine ausgeprägte medizinische Grundproblematik; aufgrund der eindeutigen Stellungnahme des Gesundheitsamtes könne aber Eingliederungshilfe nicht weiter gewährt werden.
Dagegen hat der Kläger am 19.05.2009 Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben. Er hat vorgetragen, in schwerwiegender Form in seiner geistigen Entwicklung behindert zu sein; die Musiktherapie diene der Herbeiführung und Unterstützung einer angemessenen Schulbildung; die Notwendigkeit der Musiktherapie habe der Beklagte selbst für ein Jahr bejaht; dass jetzt keine Notwendigkeit mehr bestehe, sei nicht nachvollziehb...