Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenversicherung. Befreiung von der Versicherungspflicht. angestellte Sachbearbeiterin Prozess/Regress bei Rechtsschutzversicherung. nichtanwaltlicher Arbeitgeber. rechtsanwaltliche Tätigkeit. Vierkriterientheorie. Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Mitglied einer berufsständischen Kammer. Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des BGH, EuGH und BVerfG

 

Orientierungssatz

1. Der eindeutige Wortlaut des § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 6 kann nicht in einem anderen Sinn (weit) ausgelegt werden; insbesondere genügt für einen Anspruch auf Befreiung nicht bereits, dass die Tätigkeit wesentliche Elemente einer rechtsanwaltlichen Tätigkeit aufweist, also rechtsberatend, -entscheidend, -vermittelnd und -gestaltend (sog Vierkriterientheorie) ist.

2. Für eine Befreiung genügt nicht bereits, dass die Versicherte als selbstständige Rechtsanwältin zugelassen und damit gleichzeitig Mitglied einer berufsständischen Vereinigung geworden ist.

3. Die Pflicht auf Stellung eines Antrags auf Zulassung zur Anwaltschaft und die daraus resultierende Mitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer muss in einem weiteren Sinn verstanden werden: Es muss eine Tätigkeit ausgeübt werden, deren rechtmäßige Ausübung gesetzlich zwingend die Zulassung zur Anwaltschaft und damit zugleich zwingend die Mitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer nach sich zieht.

4. Dass die abhängige Beschäftigung eines (wegen einer anderen Tätigkeit) zugelassenen Anwalts bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber keine anwaltliche Tätigkeit ist, entspricht der Rechtsprechung des EuGH, des BVerfG sowie des BGH.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.8.2011 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die 1967 geborene Klägerin ist Volljuristin (Erste Juristische Staatsprüfung 1992; Zweite Juristische Staatsprüfung 1996). Seit 1996 ist sie beim Konzern H. Deutschland beschäftigt. 1996 begann sie als Sachbearbeiterin zur Schadenregulierung bei der Versicherungsgesellschaft Deutscher M. Versicherungen (später: H. M. Versicherung AG und ab 2003 U. H. Versicherung AG). Im September 2008 wechselte sie konzernintern auf die Stelle einer Sachbearbeiterin in der Abteilung "Prozess/Regress" bei der H. Deutschland Schadenmanagement GmbH (fortan: HDSM). Für diese Stelle gesucht wurde ein(e) Volljurist(in) mit Erfahrung in spartenübergreifender Schadenregulierung. Nach der Stellenbeschreibung zählt es zu ihren Aufgaben, spartenübergreifend Prozesse auf juristischem, wirtschaftlichem und unfallanalytischem Niveau zu bearbeiten, externe Rechtsanwälte zu beauftragen und die Fälle zu überwachen, Gerichtstermine wahrzunehmen, Feedback zu den Prozessergebnissen zu geben und andere Schadenbereiche in Verfahrensfragen zu beraten. Die Klägerin ist seither tätig in der Gruppe "Prozess/Regress". Diese gehört neben den Gruppen "Betrugsprävention" und "Prozess" zur Spezialschadenabteilung der H. Deutschland Schadensmanagement GmbH. In der Gruppe "Prozess/Regress" sind sieben Volljuristen und sieben Rechtsanwalts- und Notargehilfen beschäftigt. Gruppenleiterin ist eine Versicherungsbetriebswirtin. In der Gruppe werden Prozesse ab Klageeingang und Regresse ab Einleitung des Mahnverfahrens bearbeitet. Die Akten werden elektronisch geführt und sind - anders als die Akten der Gruppe "Betrugsprävention" - nicht vor Zugriffen aus der Gesamtabteilung geschützt.

Für die Jahre 2003 - 2010 meldete der Arbeitgeber für die Klägerin zur Sozialversicherung (DEÜV) den Tätigkeitsschlüssel 694 und seit 2011 (Umstellung des Tätigkeitsschlüssels) den Tätigkeitsschlüssel 72133.

Am 30.7.2003 wurde die Klägerin von der Rechtsanwaltskammer I. für eine Nebentätigkeit als Rechtsanwältin "c/o RA U1. I1." in E zugelassen. Seither ist sie auch Mitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen (fortan: Versorgungswerk). Sowohl gegenüber der Rechtsanwaltskammer als auch gegenüber dem Versorgungswerk gab sie an, neben dem Rechtsanwaltsberuf noch eine sonstige Tätigkeit als Angestellte auszuüben. Zuvor hatte sie im Rahmen eines - später zurückgenommen - Zulassungsantrags bei der Rechtsanwaltskammer E. gegenüber ihrer Arbeitgeberin versichert, die Mitgliedschaft im Versorgungswerk lediglich wegen der damit verbundenen Altersversorgung anzustreben (Schreiben vom 27.10.2002). Bei der von der Rechtsanwaltskammer von der Arbeitgeberin geforderten Freistellungserklärung handele es sich aus ihrer Sicht um eine reine Formsache, die intern jederzeit widerruflich sei (Schreiben vom 27.12.2002). Die U. H. Versicherung AG als damalige Arbeitgeberin erklärte gegenüber der Rechtsanwaltskammer "unwiderruflich", dass der Klägerin "neben der Ausübung des Arbeitsverhältnisses jederzeit gestattet" sei, "als Anwältin tätig zu sein", und sie "in diesem Zusammenhang jederz...

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