Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsanspruch nach § 14 Abs 4 SGB 9 (hier zwischen Sozialhilfe- und Krankenversicherungsträger). Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln (hier Rollstühle)

 

Orientierungssatz

1. Die Regelung des § 14 Abs 4 SGB 9 räumt dem zweitangegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein, der den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB 10) vorgeht und begründet ist, soweit der Versicherte von diesem die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können (vgl ua BSG vom 26.6.2007 - B 1 KR 36/06 R = BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4).

2. Eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln (hier: Kinder-Aktiv-Rollstuhl für Schulbesuch neben Rollstuhl für häuslichen Bereich) hat dann zu erfolgen, wenn nur auf diese Weise ein Behinderungsausgleich iS des § 33 Abs 1 S 1 SGB 5 möglich ist.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 03.11.2011; Aktenzeichen B 3 KR 4/11 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.01.2009 geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger 700 Euro zu erstatten.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu 1/3 und der Kläger zu 2/3.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 2.119,42 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist die Erstattung von Aufwendungen für einen Kinder-Aktiv-Rollstuhl.

Der 1998 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Beigeladene, leidet an einer spastischen Diplegie. Behinderungsbedingt kann er aus eigener Kraft weder Sitzen noch Gehen und ist deshalb auf eine Sitzschale nach Maß nebst Zimmeruntergestell sowie einen Rollstuhl angewiesen. Mit diesen Hilfsmitteln hat die Beklagte ihn im Juni 2002 (Sitzschale) bzw. Januar 2005 (Rollstuhl) auch versorgt.

Im Mai 2005 beantragte der Beigeladene, der eine Städtische Förderschule, Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, in P, besucht, bei der Beklagten die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl für die Schule. Die Schule erreichte der Beigeladene damals zusammen mit sechs weiteren Kindern per Individualbus, in dem für seinen Rollstuhl kein Platz war. Die Beklagte leitete den Antrag an den Kläger weiter, weil weder der Weg zur Schule noch der insoweit erforderliche Transport eines notwendigen Hilfsmittels zu dem in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Risiko gehöre. Es kämen jedoch Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Betracht. Nachdem die Schule auf Anfrage des Klägers mitgeteilt hatte, ein täglicher Transport des Rollstuhls sei nicht möglich, gewährte der Kläger dem Beigeladenen antragsgemäß die begehrte Leistung und verlangte von der Beklagten die Erstattung der dafür aufgewandten Anschaffungskosten in Höhe von 2.119,42 Euro. Mit Schreiben vom 01.12.2005 lehnte die Beklagte die begehrte Erstattung ab. Eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zweitversorgung im schulischen Bereich bestehe nicht.

Am 22.11.2006 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Münster erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe die ihm entstandenen Anschaffungskosten zu erstatten. Denn die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. die Ermöglichung des Schulbesuchs gehöre zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Aus den maßgeblichen Vorschriften des Schulgesetzes i.V.m. der Schülerfahrkostenverordnung ergebe sich auch keine Verpflichtung des Schulträgers, die Beförderung der Schüler bzw. der Hilfsmittel zu übernehmen. Es seien lediglich die Schülerfahrkosten zu tragen, d.h. die Kosten der wirtschaftlichsten Beförderung der Schüler zur Schule und zurück.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für die Zweitversorgung des Kindes B Q mit einem Rollstuhl in Höhe von 2.119,42 Euro zuzüglich Zinsen nach § 108 Abs. 2 SGB X zu erstatten.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, zwar gehöre die Teilnahme am Schulunterricht bei Kindern und Jugendlichen zu den Grundbedürfnissen. Die Zweitversorgung sei zur Teilnahme am Unterricht jedoch nicht erforderlich. Hier gehe es lediglich um den Transport zur Schule. Weder der Weg zur Schule noch der insoweit erforderliche Transport eines Hilfsmittels gehöre zu dem in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Risiko.

Durch Urteil vom 20.01.2009 hat das SG die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Die Zweitversorgung mit einem Hilfsmittel sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nur in absoluten Ausnahmefällen möglich. Ein solcher Fall liege hier nicht vor, denn die Zweitversorgung werde ausschließlich begehrt, weil der Transport des bereits zur Verfügung gestellten Erstmittels problematisch sei. Dies könne jedoch keinen Anspruch auf eine Zweitausstattung begründen. Die gesetzliche Krankenversicherung sichere weder den Transport de...

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