Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsförderung. Kurzarbeitergeldanspruch. Anzeige des Arbeitsausfalls. verzögerte Übermittlung durch die Deutsche Post AG. keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. keine teleologisch erweiternde Auslegung des § 27 Abs 1 SGB 10. keine analoge Anwendung der Wiedereinsetzungsregelung auf § 99 Abs 1 SGB 3. Verfassungsmäßigkeit. Nachsichtgewährung
Orientierungssatz
1. § 27 Abs 1 SGB 10 ist auf eine Anzeige über den Arbeitsausfall nach § 99 Abs 1 SGB 3 nicht anwendbar, da § 99 Abs 2 S 1 SGB 3 keine verfahrensrechtliche oder materielle Frist bestimmt sondern eine materielle Anspruchsvoraussetzung setzt, die neben anderen Voraussetzungen den Anspruch auf Kurzarbeitergeld begründet.
2. Eine teleologisch erweiternde Auslegung des § 27 Abs 1 SGB 10 über den eindeutigen Gesetzeswortlaut hinaus ist ebenso wenig möglich wie eine analoge Anwendung der Wiedereinsetzungsregelung auf die Anzeige über den Arbeitsausfall.
3. Die unterschiedliche Behandlung von gesetzlichen Fristen und der Anzeige über den Arbeitsausfall verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
4. Der Umstand, dass ein verspäteter Eingang einer Anzeige über den Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit maßgeblich von einem Dritten - hier von der Deutschen Post AG, die für die Übermittlung der per Einwurf-Einschreiben übermittelten Anzeige länger benötigt (sechs Werktage) hat als nach ihren eigenen Zielvorgaben (zwei Werktage) vorgesehen - zu verantworten ist, rechtfertigt keine Nachsichtgewährung.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.09.2022 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) für den Monat April 2020.
Die Klägerin (vormals X. GmbH) mit Sitz in Z. produziert im Auftrag Dritter Geldgewinnspielgeräte und andere Produkte einschließlich Vertrieb und Service. Sie beschäftigte im Jahr 2020 in der Betriebsabteilung "Vertrieb" zunächst 72 Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden. Am 23.03.2020 vereinbarte die Klägerin mit ihren Arbeitnehmern für diese Betriebsabteilung Kurzarbeit unter Herabsetzung der Arbeitszeit auf null ab dem 01.04.2020 bis voraussichtlich Dezember 2020.
Mit Schreiben vom 21.04.2020 zeigte die Klägerin bei der Agentur für Arbeit S. einen Arbeitsausfall und die Reduzierung der regelmäßigen betriebsüblichen Wochenarbeitszeit auf null für voraussichtlich 41 Beschäftigte an. Zu den Ursachen des Arbeitsausfalls verwies sie auf Einschränkungen wegen der Covid-19-Pandemie und damit verbundene finanzielle Einbußen. Verwertbarer Resturlaub stehe den betroffenen Arbeitnehmern nicht zur Verfügung. Die Anzeige über Arbeitsausfall wurde am 23.04.2020 als Einwurf-Einschreiben zur Post gegeben; sie ging am 02.05.2020 bei der Agentur für Arbeit in S. ein.
Durch Bescheid vom 07.05.2020 stellte die Beklagte fest, dass bei der Klägerin vom 01.05.2020 bis (längstens) zum 31.12.2020 ein erheblicher Arbeitsausfall vorliege und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug ab Mai 2020 erfüllt seien. Für den Kalendermonat April 2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Anzeige über Arbeitsausfall erst im Mai 2020 bei ihr eingegangen sei. Kug könne gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III frühestens von dem Kalendermonat an geleistet werden, in dem die Anzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Dagegen legte die Klägerin am 02.06.2020 Widerspruch ein. Einen Leistungs- sowie einen Korrekturantrag auf Kug für den Kalendermonat April 2020 über insgesamt 29.834,96 EUR bzw. 30.070,81 EUR lehnte die Beklagte ebenfalls unter Hinweis auf die verspätete Anzeige über den Arbeitsausfall ab (Bescheide vom 19.06.2020 und 08.07.2020). Gegen den - den Korrekturantrag ablehnenden - Bescheid vom 08.07.2020 erhob die Klägerin Widerspruch.
Durch Widerspruchsbescheid vom 19.06.2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Anerkennungsbescheid vom 07.05.2020 als unbegründet zurück. Entscheidend sei nach § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III der Eingang der Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit, nicht hingegen der Zeitpunkt der Versendung der Anzeige. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X komme nicht in Betracht. Die Klägerin sei auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie die Anzeige über Arbeitsausfall rechtzeitig erstattet.
Dagegen hat die Klägerin am 14.07.2020 vor dem Sozialgericht Detmold Klage erhoben. Ihr sei Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren. Bei der Anzeigefrist des § 99 Abs. 2 SGB III handele es sich um eine gesetzliche Frist im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB X. Nach dem Wortlaut der Vorschrift und dem Willen des Gesetzgebers sei eine Wiedereinsetzung in den vorig...