Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendigkeit der Beiladung eines weiteren als leistungspflichtig infrage kommendenTrägers. Zulässigkeit einer Anschlussberufung zum Zweck der Klageerweiterung. Begriff der stationären Einrichtung im Jugendhilferecht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs binnen Jahresfrist (§ 111 SGB X) bei einem Träger wirkt nicht gegenüber einem weiteren Träger. Eine Verurteilung des weiteren Trägers nach § 75 Abs. 5 SGG ist (jedenfalls nach Ablauf der Jahresfrist) von vornherein ausgeschlossen; eine Beiladung ist deshalb nicht notwendig.

2. Eine Klageerweiterung im Wege der Anschlussberufung setzt nicht voraus, dass der Kläger durch das erstinstanzliche Urteil beschwert ist (BSG, Urteil vom 23.02.1966 - 2 RU 103/65; zweifelnd - ohne Begründung - Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 143 Rn. 5d).

3. Eine Einrichtung (§ 13 Abs. 2 SGB XII) kann auch in der Form bestehen, dass die Betreuten in einer Mehrzahl dezentraler Betreuungsstellen untergebracht sind, die jeweils der Rechts- und Organisationssphäre des Einrichtungsträgers so zugeordnet sind, dass sie als Teil des Einrichtungsganzen anzusehen sind. Eine zentrale Unterkunft für alle oder eine Mehrzahl der in ihr Betreuten ist nicht zwingend erforderlich.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2-3, 5, § 54 Abs. 5, §§ 87, 99 Abs. 1, 3 Nr. 2, § 202 S. 1, § 197a Abs. 1 S. 1; SGB VIII § § 35a Abs. 1a S. 2, Abs. 3, § 10 Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 27, 34, 69 Abs. 1, § 78a Abs. 1 Nr. 5; SGB XII § 13 Abs. 2, § 53 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1, 3, § 97 Abs. 1, § 98 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1-2, § 113; SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1; SGB X § 103 Abs. 1, § 104 Abs. 1, 3, § 108 Abs. 2, § 111 Sätze 1-2, § 113 Abs. 2; SGB I § 44 Abs. 1; BGB § 204 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 154 Abs. 1; GKG § 43 Abs. 1, § 52 Abs. 1, 3; AG-SGB XII NW § 1 Abs. 1, § 2; AV-SGB XII NW § 2 Abs. 1 Nr. 1a; AG-KJHG NW § 2; Verordnung über die Bestimmung Großer kreisangehöriger Städte und Mittlerer kreisangehöriger Städte zu örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe § 1; Hauptsatzung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe § 1 Abs. 1

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.10.2017; Aktenzeichen B 8 SO 12/16 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten sowie auf die im Berufungsverfahren erweiterte Klage wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 09.10.2012 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die in Sachen Q M im Zeitraum vom 01.04.2010 bis zum 30.09.2014 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 454.258,34 EUR zu erstatten. Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die notwendigen Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 454.258,34 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin als Jugendhilfeträger vom beklagten Landschaftsverband die Erstattung von Leistungen i.H.v. 454.258,34 EUR verlangen kann, die sie im Zeitraum vom 01.04.2010 bis 30.09.2014 für die Unterbringung des Q M aufgewandt hat.

Q M (im Folgenden: Hilfeempfänger) wurde am 00.00.1993 geboren. Seine Mutter war Heimkind und hat die Sonderschule besucht. In ihrer Familie gab es sexuellen Missbrauch über mehrere Generationen hinweg; bei einem Missbrauch durch Angehörige sind zwei Kinder (Zwillinge) entstanden, die zur Adoption freigegeben wurden. Der Vater des Hilfeempfängers hat ebenfalls die Sonderschule besucht und war später Lagerarbeiter. Die Eltern waren seit 1991 verheiratet. Nach Trennung 1995 wurden sie 1996 geschieden; die elterliche Sorge wurde der Mutter übertragen. Der Hilfeempfänger hat außerdem einen zwei Jahre älteren Bruder, der schon im Kindesalter Verhaltensauffälligkeiten zeigte und im Rahmen der Jugendhilfe (jedenfalls zeitweise) teilstationär betreut wurde. Die Mutter heiratete erneut, der neue Ehemann kümmerte sich jedoch - wie auch der leibliche Vater, der lediglich Unterhalt zahlte - nicht um die Kinder. Später war die Mutter wieder geschieden bzw. getrennt lebend. Sie wohnte durchgehend im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Klägerin.

Beim Hilfeempfänger war schon 1996 eine allgemeine Entwicklungsretardierung insbesondere der auditiven Wahrnehmung und der Sprachentwicklung festzustellen (Bericht Dr. S vom 05.08.1996). Seit August 1996 besuchte er daher einen Sonderkindergarten für geistig Behinderte. Das Versorgungsamt C stellte seit April 1997 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie die Merkzeichen G, B und H fest.

Im Januar 1999 beantragte die Mutter für den Hilfeempfänger beim Beklagten Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 39, 40 BSHG in Form einer Unterbringung in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt der Stiftung F. In einer im April 1999 durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung stellte die Kinderärztin M fest, dass sich die Defizite unter intensiver heilpädagogischer Förderung gebessert hätten, massive Verhaltensauffälligkeiten in Form von Hyperaktivität aber verblieben seien....

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