Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. fiktive Bemessung. Zuordnung zur Qualifikationsgruppe 4. Prognoseentscheidung. Informatikkaufmann. keine Vermittlungsmöglichkeit nach 9 Jahren Berufspause wegen Bezugs von Entgeltersatzleistungen
Leitsatz (amtlich)
Eine Fiktiveinstufung nach § 152 Abs 2 S 2 Nr 4 SGB III (Qualifikationsgruppe 4) begegnet jedenfalls dann keinen Bedenken, wenn zwischen Aufgabe der Tätigkeit im Ausbildungsberuf (hier: durch Umschulung zum Informatikkaufmann) infolge des Bezugs von Rente wegen voller Erwerbsminderung, Krankengeld und Arbeitslosigkeit ein Zeitraum von ca neun Jahren liegt. Gerade im IT-Sektor, der insbesondere in den letzten zehn Jahren von sich massiv verändernder Arbeitswelt und -bedingungen geprägt ist, ist ein Vermittlungserfolg im Ausbildungsberuf nach einem derart langen Zeitraum nahezu undenkbar.
Normenkette
SGB III § 152 Abs. 2 Sätze 1, 2 Nr. 4, § 26 Abs. 2 Nr. 1, § 35 Abs. 2, §§ 36, 150 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 3 S. 1 Nr. 1; SGB X § 39 Abs. 2; SGG § 54 Abs. 1, § 56
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.01.2018 geändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Arbeitslosengeldes bei Fiktiveinstufung.
Der Kläger ist am 00.00.1972 geboren, verheiratet und Vater eines 1994 geborenen Kindes. Nach Abschluss der Realschule (Fachoberschulreife) absolvierte er vom 01.08.1990 bis zum 31.01.1994 eine Ausbildung zum Industriemechaniker - Fachrichtung Betriebstechnik -. Von 1994 bis Januar 1999 und von Mai 1999 bis Februar 2001 war er unterbrochen von einer Arbeitslosigkeit in diesem Beruf tätig. Anschließend war er erneut arbeitslos. Vom 24.06.2002 bis zum 15.06.2004 absolvierte der Kläger erfolgreich eine von der Beklagten geförderte Umschulung zum Informatikkaufmann. Vom 01.09.2004 bis zum 31.07.2006 stand er in diesem Beruf in einem Arbeitsverhältnis. Vom 01.08.2006 bis zum 31.01.2013 bezog er eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Vom 01.02.2013 bis zum 21.02.2013 bezog der Kläger Krankengeld.
Auf seine Arbeitslosmeldung im Februar 2013 hin bewilligte ihm die Beklagte nach agenturärztlicher Untersuchung Arbeitslosengeld ab dem 22.02.2013 für 360 Tage nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 53,90 Euro und einem täglichen Leistungssatz von 28,53 Euro (endgültiger Bewilligungsbescheid vom 26.08.2013). Dabei ging die Beklagte von einer Fiktiveinstufung nach § 152 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) - Einstufung als Pförtner - aus. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Nach Erschöpfung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bezog der Kläger vom 24.02.2014 bis zum 01.09.2015 erneut Krankengeld.
Am 21.07.2015 meldete sich der Kläger bei der Beklagten zum 02.09.2015 arbeitslos. Am 03.08.2015 schlossen die Beteiligten eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Zielberuf "Pförtner" (Verbis-Vermerk vom 03.08.2015), da aus Sicht der Arbeitsvermittlung keine aktuelle Berufserfahrung mehr vorlag. Am 29.09.2015 wurde der Kläger zur Feststellung seiner Leistungsfähigkeit untersucht. Die Agenturärztin der Beklagten, Frau Dr. X, kam zu dem Ergebnis, dass er vollschichtig (täglich sechs Stunden und mehr) für leichte Tätigkeiten mit wechselnder Arbeitshaltung dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Aus ärztlicher Sicht seien grundsätzlich Bürotätigkeiten am ehesten möglich, sofern die qualitativen Einschränkungen berücksichtigt würden. Dabei sei zu beachten, dass ununterbrochenes Sitzen zu verstärkten Beschwerden führe und daher die Möglichkeit zum zwischenzeitlich kurzzeitigen Stehen und Gehen gegeben sein sollte.
In einem persönlichen Gespräch mit dem zuständigen Arbeitsvermittler der Beklagten Q schloss sich der Kläger dem Gutachten an. Der Arbeitsvermittler dokumentierte im Verbis-Vermerk vom 15.10.2015, dass sich aufgrund der langen Abwesenheit des Klägers vom Arbeitsmarkt Vermittlungsaktivitäten der Beklagten auf Tätigkeiten erstreckten, die keinen Berufsabschluss erforderten. Er sei damit Qualifikationsgruppe 4 zuzuordnen.
Durch Bescheid vom 14.09.2015 und Bewilligungsbescheid vom 02.10.2015 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig und durch Bescheid, Änderungsbescheid und gesonderten Bewilligungsbescheid vom 15.10.2015 abschließend Arbeitslosengeld ab dem 02.09.2015 mit einer Anspruchsdauer von 240 Tagen und einem täglichen Leistungssatz von 26,87 Euro. Die Beklagte legte dabei ausgehend von der Qualifikationsgruppe 4 des § 152 Abs. 2 SGB III ein fiktives kalendertägliches Bemessungsentgelt von 56,70 Euro zugrunde, ermittelte hieraus unter Berücksichtigung der in der Lohnsteuerkarte eingetragenen Lohnsteuerklasse III ein tägliches Leistungsentgelt von 44,79 Euro und setzte hiervon 60 % als Leistungssatz fest.
Am 25.10.2015 legte der Kläger Widerspruch ein. Er sei gelernter Informatikkaufmann. Ferner verfüge er über eine abgeschlossene Berufs...