Entscheidungsstichwort (Thema)
Zweitversorgung mit Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertagesstätte. Hilfsmittel. Mittelbarer Behinderungsausgleich. Befriedigung von Grundbedürfnissen. Erstattung. Zinsanspruch
Leitsatz (redaktionell)
1. § 14 Abs. 4 SGB IX räumt dem “zweitangegangenen Träger” einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein, der den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach SGB X vorgeht.
2. Der Besuch der Kindertagesstätte durch ein schwerstbehindertes Kind dient der Integration des Kindes wie seiner Vorbereitung auf den Erwerb schulischen Allgemeinwissens und damit der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Wird hierfür wegen der mangelnden Transporteignung ein zweiter Therapiestuhl benötigt, fällt dieser in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse nach § 33 Abs. 1 S. 1SGB V.
3. Die Verzinsungsvorschrift des § 108 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB X i.V.m. § 44 Abs. 3 S. 1 SGB I gilt für Erstattungsansprüche nach § 14 Abs. 4 SGB IX entsprechend.
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des LSG Essen vom 20.1.2011 - L 16 KR 184/09, das vollständig dokumentiert ist.
Normenkette
SGB IX § 14 Abs. 4 S. 1, §§ 31, 26 Abs. 1 Nr. 6; SGB V § 33 Abs. 1 S. 1; SGB X § 108 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; SGB I §§ 1, 44 Abs. 3; SGB VIII § 22 Abs. 2-3, § 24
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.07.2009 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.555,59 Euro zuzüglich 4 % Zinsen aus 3.555,- Euro ab 01.02.2006 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.555,59 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse dem Sozialhilfeträger die Kosten für eine Zweitversorgung eines Kindes mit einem Therapiestuhl zu erstatten hat, der für den Besuch einer Kindertagesstätte benötigt wurde.
Die am 00.00.2002 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte L. (Versicherte) leidet an schwerwiegenden Entwicklungsstörungen bei u.a. einem Anfallsleiden. Seit 2003 ist sie deshalb von der Beklagten u.a. mit einem Therapiestuhl ("Gamma 2") versorgt, der in der Wohnung eingesetzt wird und über 17 kg wiegt. Seit 2005 bis zur Einschulung in eine Förderschule im August 2008 besuchte sie eine heilpädagogische Kindertagesstätte. Die Kosten der heilpädagogischen Leistung einschließlich der Kosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Einrichtung übernahm der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Kläger) nach § 54 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), § 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).
Am 03.05.2005 beantragte die Versicherte unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung und eines Kostenvoranschlages bei der Beklagten, ihr einen weiteren Therapiestuhl ("Wombat Upgrade" mit Zubehör) für den Besuch der Kindertagesstätte zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte leitete den Antrag mit Schreiben vom 17.05.2005 an den Kläger weiter, da eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht gegeben sei. Der Kläger versorgte daraufhin die Versicherte für den Besuch der Kindertagesstätte mit einem im Dezember 2005 bezahlten Therapiestuhl, der in seinem Eigentum verblieb, und machte am 12.10.2005 gegenüber der Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX in Höhe von 3.555,59 Euro geltend, dessen Erfüllung die Beklagte unter Hinweis auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Neuruppin ablehnte.
Mit der am 22.11.2006 zum Sozialgericht Münster (SG) erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er vorgetragen: Die Versicherte benötige zum Besuch der Kindertagesstätte einen zweiten Therapiestuhl, da sie ohne Therapiestuhl nicht sitzen könne und der ihr zuhause zur Verfügung stehende Therapie-stuhl für einen täglichen Transport und einen Außeneinsatz nicht geeignet sei. Der Besuch einer Kindertagesstätte sei zur Vorbereitung des Schulbesuchs und zur Erlangung der Schulreife erforderlich. Die Ermöglichung der Integration unter Gleichaltrigen gehöre zu den Grundbedürfnissen, zu deren Sicherstellung die GKV im Rahmen der notwendigen Krankenversorgung und Hilfsmittelversorgung nach § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verpflichtet sei. Die Leistungsverweigerung der Beklagten verletze die sozialen Rechte des Kindes und gefährde hierdurch dessen körperliche und geistige Entwicklung.
Die Beklagte hat dem entgegen gehalten: Beim Behinderungsausgleich nach der dritten Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V seien nicht sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen. In der GKV sei allein der Bereich der medizinischen Rehabilitation abzudecken. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfassen könne, sei Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Als Hilfsmittel der GKV würden solche angesehen, die die Aus...