Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Streitgegenstand. Ablehnung eines Antrags auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12. Therapiedreirad. Erledigung des Ablehnungsbescheides mit Ablauf des 31.12.2019. Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers für einen möglichen Anspruch nach § 33 SGB 5. Hilfsmittelversorgung. Behinderungsausgleich. Befriedigung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens. Erschließung des Nahbereichs der Wohnung
Orientierungssatz
1. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB 9 2018 sind nicht zulässiger Streitgegenstand eines Rechtsstreits, wenn der angegriffene Verwaltungsakt keine Regelung über Leistungen nach dem SGB 9 enthält (vgl BSG vom 24.6.2021 - B 8 SO 19/20 B).
2. Kommt ein Anspruch auf Teilhabeleistungen nicht nur nach dem Recht der Eingliederungshilfe (nach dem SGB 12 oder dem SGB 9 2018), sondern auch nach anderen Leistungsgesetzen (hier § 33 SGB 5) in Betracht, entfaltet ein Ablehnungsbescheid betreffend Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB 12 auch weiterhin Wirkung und kann eine Erledigung durch die Rechtsänderung zum 1.1.2020 nicht angenommen werden.
4. Zum Anspruch auf ein Therapiedreirad im Rahmen der Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB 5.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.06.2021 geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2018 verurteilt, die Klägerin mit dem Therapiedreirad "Easy Rider" entsprechend dem Kostenvoranschlag vom 10.10.2022 unter Abzug eines Eigenanteils in Höhe von 350,00 EUR sowie unter Abzug eines Aufpreises für die Batterie (Ziffer 21511 des Kostenvoranschlags) zu versorgen.
Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Therapiedreirad "Easy Rider".
Die am 00.00.1984 geborene Klägerin erkrankte 2010 an einem Ewing-Sarkom im rechten Schienbein, das aktuell mit einer Prothese versorgt ist. Der Schienbeinknochen ist entnommen worden, das obere Sprung- und das Kniegelenk sind erhalten, rechts besteht eine Beinverkürzung. Zusätzlich besteht ein Chronic Fatigue-Syndrom. Die Gehfähigkeit der Klägerin ist erheblich herabgesetzt. Zuletzt wurden von der Stadt N ein GdB von 80 sowie die Merkzeichen G und B festgestellt und Parkerleichterungen bewilligt. Die Klägerin bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, die zuletzt von der DRV Bund mit Bescheid vom 07.05.2020 bis zum 30.06.2023 verlängert worden ist. Im Juli 2020 betrug die Rentenhöhe monatlich 371,97 EUR netto. 2017 erhielt die Klägerin ergänzend Grundsicherung nach dem SGB II. Ab Februar 2018 erhielt sie Hilfe zum Lebensunterhalt, derzeit bezieht sie nach ihren Angaben keine Leistungen nach dem SGB XII, hat diese aber beantragt. Die Klägerin lebt in einer eigenen Wohnung. Sie verfügt über einen behinderungsgerecht umgebauten PKW, der Umbau wurde von der Agentur für Arbeit als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben finanziert. Einen von der Beigeladenen zu 1) zur Verfügung gestellten Rollstuhl hat die Klägerin zurückgegeben.
Mit Schreiben vom 21.05.2017, bei der Beigeladenen zu 1) eingegangen am 23.05.2017, beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen zu 1), bei der sie krankenversichert ist, die Versorgung mit einem Therapiedreirad "Easy Rider 2". Die Klägerin trug vor, aufgrund ihrer Knochenkrebserkrankung sei es ihr nicht mehr möglich, Fahrrad zu fahren. Um etwas mehr Teilhabe am sozialen Leben und Lebensqualität haben zu können (Freunde besuchen, Ausflüge, Einkäufe pp), benötige sie das Therapierad. Am 06.06.2017 gab die Beigeladene zu 1) den Antrag an die Beklagte ab. Es handele sich bei der beantragten Leistung um eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Mit Bescheid vom 07.08.2017 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme "sowohl nach den Vorschriften des SGB V als auch denen des SGB XII" ab. Sie erklärte sich als zweitangegangener Leistungsträger iSd § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 31.12.2017 gF) für zuständig. Das Therapiedreirad sei nicht als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich iSd § 33 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 SGB V zu beanspruchen, denn es diene nicht der Erschließung des Nahbereichs. Für die Basisversorgung sei der Klägerin von der Krankenkasse ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt worden. Zusätzlich verfüge die Klägerin über ein Auto. Eine Kostenübernahme nach dem SGB XII scheide ebenfalls aus. Zwar gehörten nach §§ 53, 54 SGB XII, § 55 SGB IX zu den Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auch die Versorgung mit Hilfsmitteln. Zur Erreichung der von der Klägerin benannten Teilhabeziele seien aber ebenfalls der Rollstuhl und das Auto ausreichend, die Anschaffung eines "elektrischen Dreirades" sei nicht erforderlich.
Im Widerspruchsverfahren (Widerspruch vom 30.08.2017) trug die Klägerin vor, der Rollstuhl könne von ihr nicht ins Auto gehoben werden, weshalb ...