Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Annahme einer Klagerücknahmefiktion
Orientierungssatz
1. Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 SGG kann einen Rechtstreit nur dann beenden, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist.
2. Es müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass dem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist.
3. Die Klagerücknahmefiktion tritt nur ein, wenn der Kläger bis zum Fristablauf das Verfahren nicht weiter betreibt und das Rechtschutzinteresse entfallen ist.
4. Meldet sich der Kläger bereits am Tag des Zugangs der Betreibensaufforderung bei Gericht und weist er auf die Schwierigkeiten bei der Beschaffung der vom Gericht geforderten Erklärung hin, so existiert kein Anhaltspunkt für einen Wegfall des Rechtschutzinteresses.
5. In einem solchen Fall ist der Rechtstreit nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet und vor dem Sozialgericht fortzusetzen.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 1.4.2020 aufgehoben und festgestellt, dass der Rechtsstreit S 23 R 93/19 nicht durch Klagerücknahme beendet ist. Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Fortsetzung des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Münster unter dem Aktenzeichen S 23 R 714/19 (ursprünglich: S 23 R 93/19).
Der Kläger wandte sich mit seiner ursprünglichen Klage (SG Münster, S 23 R 93/19) gegen eine Ablehnung der Gewährung der von ihm am 23.11.2017 beantragten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Gegen die Ablehnung seines Antrags mit Bescheid vom 8.2.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.1.2019 erhob der Kläger am 6.2.2019 bei dem Sozialgericht Münster durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage. Mit gerichtlicher Verfügung vom 7.2.2019 forderte das Gericht den Kläger zur Klagebegründung und zur Übersendung des ausgefüllten Fragebogens zur Person sowie der Schweigepflichtsentbindungserklärung auf. Am 19.2.2019 gingen bei dem Gericht die Verwaltungsakten der Beklagten ein. In der Verwaltungsakte befindet sich eine testpsychologische Untersuchung, in welcher Hinweise auf Defizite bei der Teilung der Aufmerksamkeit und auf eine Reaktionsverlangsamung gegeben werden. Die selektive Aufmerksamkeit sei beeinträchtigt. Die Ergebnisse würden auf eine Lern- und Konsolidierungssstörung hindeuten. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses des Klägers sei verringert. Der psychiatrische Gutachter im Verwaltungsverfahren beschrieb eine Anpassungsstörung mit allenfalls leichtgradiger ängstlich-depressiver Ausgestaltung. In der Anamnese heißt es, der Kläger sei viel im Internet unterwegs, das Internet sei sein Fenster zur Welt. Kontakt bestehe eigentlich nur zu den Geschwistern, zwei würden - nach Einschätzung des Klägers - "ganz weit weg wohnen", nämlich über 10 km. Er sei den ganzen Tag überwiegend zu Hause.
Das Sozialgericht erinnerte am 16.4.2019 und 14.5.2019 an seine o.g. Aufforderung. Mit Schreiben vom 22.5.2019 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, dass der Kläger auch nach mehrmaliger Erinnerung an die Rücksendung der Unterlagen keine Reaktion gezeigt habe. Auch diverse Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, seien gescheitert. Eine Klagebegründung solle daher ohne Rücksprache mit dem Kläger erfolgen.
Die angekündigte Klagebegründung ging am 31.5.2019 bei dem Sozialgericht ein. Dort heißt es im Rahmen des Vortrags zum medizinischen Sachverhalt durch den Bevollmächtigten: "Der Kläger ist für mich nicht erreichbar, trotz mehrfacher Versuche, welches ich dem Gericht bereits schilderte. Er scheint sich in seiner Wohnung ‚einzuigeln‘ und den Kontakt zur Außenwelt nur über das Internet zu wahren." Nach Hinweis auf die rechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung führte der Bevollmächtigte aus: "Der Kläger ist in diesem Sinne vielschichtig beeinträchtigt. Dies ergibt sich aus den oben zitierten Diagnosen in der Verwaltungsakte. Die orthopädischen Erkrankungen wirken hier zusammen mit den Erkrankungen auf dem Gebiet der inneren Medizin und den psychiatrischen Erkrankungen. Dabei kommen die Herzerkrankung und die psychiatrischen Erkrankungen bei der Beurteilung der Beklagten zu kurz. Es reicht nicht, sich darauf zu beziehen, dass der Kläger nicht in fachärztlicher Behandlung ist. Diese scheint er bewusst zu meiden. Sowohl die Art des Kontakts als auch der Inhalt der Schreiben des Klägers im Verfahren lassen auf eine psychische Erkrankung schließen. Bestätigt wird dies durch seine Kontaktmeidung auch mir gegenüber. Genauso unterstellt die Beklagte hier Wegefähigkeit, ohne dies einmal getestet zu haben. Aufgrund der Herzerkrankung, der Gelenkbeschwerden, der anhaltenden Schmerzen und der Adipositas per magna bezweifle ich diese."
Am 4.6.2019 verfügte die Vorsitzende eine Aufforderung, das Verfahren innerhalb von drei Monaten nach Zustellung durch Über...