Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Verletztenrente. höhere MdE-Einschätzung. Verschlechterung des Gesundheitszustandes. wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse. ursprünglich rechtswidriger Verwaltungsakt: ungerechtfertigter Vorteil. Bestandskraft. Vertrauensschutz. keine "Abschmelzung" gem § 48 Abs 3 SGB 10 durch den Unfallversicherungsträger

 

Orientierungssatz

1. Liegt ein Feststellungsbescheid vor, der rechtswidrigerweise die MdE zu hoch festgestellt hat, kann dieser entweder nach § 45 SGB 10 - teilweise - zurückgenommen werden, oder, wenn dies - wie vorliegend - nicht mehr möglich ist, gemäß § 48 Abs 3 SGB 10 "abgeschmolzen" werden. Wird diese Möglichkeit der Abschmelzung nicht wahrgenommen, kann die unterbliebene Abschmelzung nicht bei einer zukünftigen Änderung der Verhältnisse nachgeholt werden. Die Korrektur der Folgen eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 48 Abs 3 SGB 10 setzt eine entsprechende ausdrückliche Verwaltungsentscheidung voraus.

2. Demgegenüber ist § 48 Abs 3 SGB 10 nicht eigenständig durch die Gerichte dergestalt anwendbar, dass diese eine Klage auf eine höhere Leistung oder auf Feststellung einer höheren MdE von sich aus unter Hinweis auf diese Vorschrift abweisen dürfen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 08.12.2021; Aktenzeichen B 2 U 10/20 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 01.03.2018 wird zurückgewiesen.

Der Beklagten werden Kosten iHv 1000 EUR auferlegt.

Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger wegen Verschlimmerung der Folgen einer anerkannten Berufskrankheit nach Nr 2102 (BK 2102) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) Rente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu gewähren ist.

Mit Bescheid vom 18.01.2011 gewährte die Beklagte dem Kläger für die Zeit ab dem 11.08.2008 Rente nach einer MdE von 30 vH und erkannte Bewegungseinschränkungen des linken und rechten Kniegelenks, eine Minderbelastbarkeit beider Beine sowie röntgenologisch nachweisbare mittelgradige Kniegelenksarthrose beidseits nach operativer Teilentfernung des linken und rechten Innenmeniskus und Umstellungsosteotomie im Schienbeinkopfbereich beidseits als Folgen der BK 2102 an. Ihre Entscheidung stützte sie auf ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme des Chirurgen / Unfallchirurgen Dr. T vom 02.07.2010 und 23.08.2010, der die Auffassung vertreten hatte, dass aufgrund der seinerzeit insbesondere von Dr. S erhobenen Befunde ab dem 11.08.2008 fortlaufend eine MdE von 30 vH anzunehmen sei. In einem Folgegutachten vom 04.07.2012 konnte Dr. T wesentliche Veränderungen nicht feststellen und bewertete die MdE weiterhin mit 30 vH.

Aufgrund fortschreitender Sekundärarthrose erfolgte am 24.03.2015 die Implantation einer zementierten, ungekoppelten, bikondylären Oberflächenersatzprothese und Resektionsarthroplastik links. Die Beklagte zog im Folgenden Arztberichte bei und holte ein fachchirurgisches Gutachten von Dr. D vom 21.11.2015 ein, der die MdE mit 40 vH bewertete. In einer hierzu eingeholten beratungsärztlichen Stellungnahme vom 02.03.2016 vertrat Dr. C die Auffassung, die Gesamt-MdE betrage weiterhin 30 vH.

Mit Bescheid vom 15.03.2016 lehnte die Beklagte die Erhöhung der Verletztenente ab. Die dem Bescheid vom 18.01.2011 zugrunde liegenden Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert. Die dokumentierten Funktionseinschränkungen seien mit einer MdE von 30 vH sachgerecht bewertet. Hiergegen erhob der Kläger am 23.03.2016 Widerspruch. Es liege eine progrediente Verschlimmerung der Situation im Bereich des linken Knies vor, die trotz erfolgter Implantation einer neuen Oberflächenersatzprothese nicht vollständig behoben worden sei. Er habe weiterhin Schmerzen im linken und rechten Knie. Es sei nicht ersichtlich, warum der Beurteilung des Sachverständigen Dr. D nicht gefolgt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.08.2016 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 21.09.2016 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Münster (SG) erhoben und zur Begründung sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat er vorgetragen, es liege eine Verschmächtigung des linken Beines gegenüber rechts im Bereich der Ober- und Unterschenkelmuskulatur um zwei Zentimeter vor. Er habe weiter erhebliche Schmerzen in beiden Kniegelenken und ein wackeliges Gefühl im linken Kniegelenk. Das Ein- und Aussteigen aus einem Pkw, langes Stehen oder "in-die-Hocke-Gehen" würden ihm Probleme bereiten. Hinzu komme eine schmerzhafte linke Hüfte.

Das SG hat ein fachorthopädisches Gutachten von Dr. T1 vom 30.03.2017 eingeholt, der die Auffassung vertreten hat, gegenüber dem maßgeblichen Vorgutachten von Dr. T sei am linken Kniegelenk eine Veränderung durch den Einsatz des Kunstgelenks am 24.03.2015 festzustellen. Dieses sei prinzipiell mit einer Minderbelastbarkeit aufgrund der bestehenden Lo...

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