Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzung der Aufrechnung eines Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers mit laufenden Ansprüchen des Grundsicherungsberechtigten
Orientierungssatz
1. Steht dem Grundsicherungsträger gegen den Grundsicherungsberechtigten ein bestandsfähig festgestellter Erstattungsanspruch zu, so kann der Leistungsträger diesen nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB 2 i. V. m. §§ 40 Abs. 1 S. 1, 50 SGB 10 gegen Ansprüche des Hilfebedürftigen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufrechnen.
2. Das dem Grundsicherungsträger durch § 43 SGB 2 eingeräumte Entschließungsermessen, ob er aufrechnet, ist vom Gericht nur daraufhin zu überprüfen, ob er sein Ermessen ausgeübt, ob er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 09.09.2019 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren ein Aufrechnungsbescheid des Beklagten streitig.
Der am 00.00.1961 geborene Kläger bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten unter Einbeziehung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Mietwohnung des Klägers in B.
Unter dem 05.03.2017 erreichte den Beklagten ein Schreiben des früheren Vermieters des Klägers, der bei dem Kläger den Verdacht des Sozialleistungsbetruges zur Anzeige brachte. Der Lebensstil des Klägers passe nicht zu einem SGB II-Empfänger (teure Kleidung und Einrichtung, im Sommer Cabrios als Mietwagen etc.). Außerdem leite der Kläger die vom Jobcenter erhaltenen Mietaufwendungen nicht vollumfänglich an den Vermieter weiter. So habe der Kläger seit Anfang 2016 die Miete um insgesamt 2.000 EUR gemindert. Es bestehe der Verdacht, dass dies dem Jobcenter nicht mitgeteilt werde. Dem Schreiben war ein Mietkontoauszug beigefügt, der einen Mietrückstand für die Zeit Januar 2016 bis Februar 2017 iHv insgesamt 1.945 EUR auswies (3 Monate Mietminderung um 135 EUR/ 11 Monate Mietminderung um 140 EUR).
Mit Schreiben vom 15.03.2017 hörte der Beklagte den Kläger zu diesen Vorwürfen an und bat insbesondere um Stellungnahme zu der Mietminderung und ggf. deren Begründung. Unter dem 17.03.2017 meldete sich der neue Vermieter des Klägers, der Mietkürzungen des Klägers seit 2015 beklagte. Mit Schreiben vom 22.03.2017 teilte der Kläger mit, dass er die Miete gemindert habe, weil seit Mai 2014 eine Badsanierung vom Vermieter durchgeführt worden sei, weswegen er 4,5 Wochen das Bad und auch Teile der Wohnung nicht habe nutzen können. Das Badezimmer sei weiterhin nicht fertig saniert worden. Da er Allergiker sei, habe er wegen Baustaub sieben Tage im Hotel verbracht. Daneben gebe es Ärger mit dem Vermieter um Taubenkot, Mülllagerungen und Nachbarlärmbelästigungen. Einen Teil der Mietkürzungen habe er auf einem Konto bei der Deutschen Bank eingezahlt. Diese Guthaben seien von Gläubigern (S, Rechtsanwalt) iHv insgesamt 1.369,29 EUR gepfändet worden. Belege könne er jederzeit einreichen.
Nach Anhörungen des Klägers vom 05.04.2017, auf die dieser nicht reagierte, hob der Beklagte mit zwei Rücknahme- und Erstattungsbescheiden vom 27.04.2017 die Leistungsbescheide für Januar 2016 bis April 2017 teilweise iHv von monatlich 135 EUR (für Januar bis März 2016) bzw. monatlich 140 EUR (für April 2016 bis April 2017) auf und forderte vom Kläger insgesamt 2.225 EUR zurück. Der Kläger widersprach ohne Begründung mit anwaltlichem Schreiben vom 11.05.2017, nahm den Widerspruch aber unter dem 14.06.2017 zurück. Auf Antrag des Klägers wurde die Erstattungsforderung des Beklagten von der Bundesagentur für Arbeit (Inkasso-Service) gestundet.
Mit undatiertem Schreiben, dem Beklagten am 04.09.2018 zugesandt, beantragte der Kläger eine Stundung über den 30.09.2018 hinaus. Er habe aus gesundheitlichen Gründen medizinische Mehrausgaben, die die Krankenkasse nicht übernehme (wegen Allergien, Hörsturz). Mit Bescheid vom 20.09.2018 kündigte der Beklagte an, die Erstattungsforderungen iHv insgesamt 2.225 EUR ab dem 01.10.2018 iHv monatlich 124,80 EUR mit dem monatlichen Regelbedarf des Klägers aufzurechnen. Die Erstattungsbescheide seien bestandskräftig. Auch unter Zugrundelegung des Stundungsantrags und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände (Zweckentfremdung der Mietkosten für 16 Monate, Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse [anrechnungsfreies Erwerbseinkommen von monatlich 97,90 EUR bei der Fa. S U seit August 2018], keine Tilgungsbemühungen in der Vergangenheit) sei das Ermessen des Beklagten dahingehend auszuüben, dass eine Aufrechnung iHv 30 % des Regelbedarfs entsprechend § 43 Abs. 2 Satz 1, 2. Variante SGB II durchgeführt werde.
Der Kläger wiederholte über seinen früheren Bevollmächtigten mit Schreiben vom 09.10.2018 seinen Stundungsantrag und legte am 17.10.2018 "Einspruch" gegen den Aufrechnungsbescheid ei...