Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. Anwartschaftszeit. Beitragsfreiheit kurzzeitiger Beschäftigungen. Diskriminierung von Frauen. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Die Regelungen zur Beitragsfreiheit kurzzeitiger Beschäftigungen in der Arbeitslosenversicherung in § 169a Abs 1 S 1 AFG iV mit § 102 Abs 1 S 1 AFG in der bis zum 31.03.1997 geltenden Fassung verstoßen nicht gegen Vorschriften des europäischen Rechts (Anschluß an BSG vom 24.7.1997 - 11 RAr 91/96 = USK 9729).
2. Eine mittelbare Diskriminierung liegt nicht bereits dann vor, wenn die Anwendung einer - wie hier - neutral formulierten Maßnahme (keine Beitragspflicht bei kurzzeitiger Beschäftigung für alle) tatsächlich wesentlich mehr Frauen als Männer benachteiligt, sondern erst dann, wenn diese Bestimmung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl EuGH vom 2.10.1997 - C-1/95 = EuGHE I 1997, 5353 = ABl EG 1997, Nr C 357, 3).
3. Der spezielle Gleichheitssatz des Art 3 Abs 3 und Abs 2 GG, der eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, ist durch §§ 102 Abs 1 S 1 und 169a Abs 1 S 1 AFG idF vom 20.12.1988 nicht verletzt.
4. Die fehlende Rückwirkung des § 169a Abs 1 S 1 AFG idF vom 24.3.1997 ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Tatbestand
Die 1948 geborene Klägerin beansprucht Arbeitslosengeld (Alg) ab 03.04.1995.
Sie arbeitete vom 01.01.1993 bis zum 17.08.1994 als Reinigungskraft. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug 16 Stunden. Wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses führte die schwerbehinderte Klägerin, die in den Zeiten vom 03.09. bis 09.10.1994 und 08.11.1994 bis 27.01.1995 Krankengeld bezog, den Rechtsstreit 3 Ca 2657/94 vor dem Arbeitsgericht Bochum. Sie einigte sich unter Mitwirkung und auf Vorschlag der Fürsorgestelle der Stadt B mit ihrer früheren Arbeitgeberin laut Vereinbarung vom 07.02.1995 dahin, daß das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 1.500 DM aus betrieblichen Gründen unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist am 31.03.1995 endet. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Vereinbarung vom 07.02.1995 Bezug genommen. Auf der Grundlage des vereinbarten Stundenlohns und der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 16 Stunden zahlte ihr ihre frühere Arbeitgeberin für die Monate Januar bis März 1995 jeweils 867 DM. Sozialversicherungsbeiträge entrichtete die Arbeitgeberin fortlaufend vom Beginn bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses.
Am 03.04.1995 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Alg. Mit Rücksicht auf die Betreuung ihres elfjährigen Sohnes schränkte sie ihre Vermittlungsfähigkeit auf eine Teilzeitarbeit von wöchentlich 18 Stunden ein.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 25.07.1995 -- bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 20.09.1995 -- mit der Begründung ab, die Klägerin habe mangels beitragspflichtiger Beschäftigung (§§ 169 a, 102 Arbeitsförderungsgesetz -- AFG -- = unter 18 Stunden wöchentlich) die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Das Sozialgericht hat die hiergegen binnen Monatsfrist gerichtete Klage, die insbesondere darauf gestützt worden ist, daß die Beklagte bei ihrer rechtlichen Beurteilung sowohl Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG als auch Art. 3 Abs. 3 iVm Abs. 2 Grundgesetz -- GG -- unberücksichtigt gelassen habe, durch Urteil vom 27.06.1996 abgewiesen: Angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung in §§ 169 a Abs. 1 Satz 1, 102 Abs. 1 Satz 1 AFG, komme eine Auslegung dieser Vorschriften dahin, daß Kurzzeitigkeit nicht gegeben sei, wenn eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Stunden wöchentlich geleistet worden sei und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt worden seien, nicht in Betracht. Da der Europäische Gerichtshof (EuGH) durch Urteil vom 14.12.1995 (SozR 3-6083 Art. 4 Nr. 12) bereits entschieden habe, daß eine nationale Regelung, die Beschäftigungen, die der Natur der Sache nach auf regelmäßig weniger als 18 Stunden in der Woche beschränkt zu sein pflegen oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sind, von der Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung ausnimmt, keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 4 Abs. 1 EWGRL 79/7 vom 19.12.1978 darstelle, sei auch unter diesem Gesichtspunkt weder eine andere Entscheidung noch eine erneute Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung geboten. Schließlich bestünden im Hinblick darauf, daß erheblich mehr Frauen als Männer durch die Regelung betroffen seien, auch keine Zweifel daran, daß § 169 a AFG mit Art. 3 Abs. 2 GG vereinbar sei. Der neue Satz 2 dieser Vorschrift ziele zwar auf die Beseitigung bestehender geschlechtsspezifischer Nachteile, die Art und Weise, wie dieses Ziel zu erreichen sei, werde dadurch aber nicht festgelegt. Einer mittelbaren Diskriminierung könne durch eine Reihe alternativer Maßnahmen des Gesetzgebers begegnet werden.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 11.07.1996 zugestellte Urteil am 05.08.1996 Berufung eingeleg...