Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. minderjähriges Gewaltopfer. sozialrechtlich handlungsunfähiges Kind. Antrag auf Beschädigtenversorgung. Leistungsbeginn. verlängerte Jahresfrist. Verschulden. gesetzlicher Vertreter. Rechtsunkenntnis. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Beratungspflicht des Jugendamts. Zurechnung. keine enge materiell-rechtliche Verknüpfung zwischen Jugendamt und Versorgungsbehörde. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren
Orientierungssatz
1. Ein Kind, das nicht sozialrechtlich handlungsfähig ist und deshalb keine rechtswirksamen Willenserklärungen abgeben kann, muss sich das Verschulden seines Sorgeberechtigten im Hinblick auf die verspätete Stellung eines Antrags auf Opferentschädigungsleistungen zurechnen lassen (vgl BSG vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R = SozR 4-3100 § 60 Nr 5).
2. Rechtsunkenntnis (hier über das Bestehen von Ansprüchen auf Gewaltopferentschädigung) schließt ein Verschulden grundsätzlich nicht aus (vgl BSG vom 15.8.2000 - B 9 VG 1/99 R = SozR 3-3100 § 60 Nr 3).
3. Ein sozialer Herstellungsanspruch kann sich auch aus dem fehlerhaften Verhalten anderer Behörden ergeben, die sich der zuständige Leistungsträger zurechnen lassen muss.
4. Eine zurechenbare Beratungspflichtverletzung ist auch dann gegeben, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen (hier Versorgungsbehörde und Jugendamt) materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die andere Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden Kontakts der aktuelle Ansprechpartner des Berechtigten ist und die Behörde aufgrund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht (vgl BSG vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R = BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6).
5. Eine Eingliederung setzt voraus, dass die andere Behörde (hier: Jugendamt) im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren der zuständigen Behörde (hier: Versorgungsbehörde) arbeitsteilig eingeschaltet ist (hier verneint).
6. Die gesetzlichen Aufgaben nach dem SGB 8 und dem OEG sind auch nicht derart materiell-rechtlich verknüpft, dass dies einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch rechtfertigen würde.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; BVG § 60 Abs. 1; SGB X § 27 Abs. 1 S. 2; BGB § 1709; SGB VIII § 97
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.02.2013 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin auch für die Zeit vom 01.01.1997 bis zum 30.06.2005 einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gegen den Beklagten hat.
Die 1995 geborene Klägerin ist die Tochter von N.M. (Mutter) und F.N. (Vater). Die unverheirateten Eltern lebten nach der Geburt der Klägerin ab April 1996 in einer gemeinsamen Wohnung. Die Mutter der Klägerin die in Kriegswirren in ihrem Heimatland schwer misshandelt wurde, war im Dezember 1992 als Asylbewerberin aus Zaire nach Deutschland gekommen, wo im Februar 1993 ihr erstes Kind zur Welt kam; nach einer stationären Behandlung wegen einer psychotischen Erkrankung wurde der Mutter die elterliche Sorge für ihr Kind entzogen (Beschluss des Amtsgerichts F vom 28.06.1993). Nach einem erneuten psychotischen Schub im März 1995 wurde durch Beschluss des Amtsgerichts F vom 22.06.1995 ein Betreuer für die Mutter bestellt. Nach der Geburt der Klägerin wurde durch Beschluss des Amtsgerichts F vom 31.10.1995 das Ruhen der elterlichen Sorge der Mutter festgestellt und das Kreisjugendamt F zum Vormund bestimmt. Mit Beschluss des Amtsgerichts F vom 25.03.1996, wurde der Vater der Klägerin zum Vormund bestellt. In der Zeit vom 16.01.2003 bis 03.05.2005 lag die elterliche Sorge bei der Mutter (Beschluss des Amtsgerichts S vom 16.01.2003) und durch Beschlüsse des Amtsgerichts S vom 03.05.2005 und 18.10.2005 wurde der Mutter die elterliche Sorge wieder entzogen und die Beigeladene zu 1) zum Vormund bestellt. Ab dem 05.10.2011 bis zur Volljährigkeit der Klägerin oblag die elterliche Sorge dem Vater (Beschluss des Amtsgerichts E vom 05.10.2011).
Am 03.01.1997 wurde die Klägerin, während der Vater seiner Berufstätigkeit nachging und sich deshalb nicht in der gemeinsamen Wohnung aufhielt, von ihrer Mutter so schwer misshandelt, dass sie eine Schädelfraktur mit Subarachnoidalblutung und Hirnkontusion erlitt. Das gegen die Mutter wegen des Verdachts der Misshandlung von Schutzbefohlenen eingeleitete staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren (XX, Staatsanwaltschaft C), in dem u.a. der Vater der Klägerin am 04.03.1997 als Zeuge vernommen wurde, wurde am 13.01.1998 gemäß § 20 Strafgesetzbuch (StGB) mangels Schuldfähigkeit der Mutter zum Tatzeitpunkt eingestellt.
Die Beigeladene zu 1) beantragte am 29.07.2005 beim damaligen Versor...