Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Erwerbsfähigkeit einer rumänischen Studentin. Arbeitserlaubnis-EU für geringfügige Beschäftigung. Arbeitnehmerfreizügigkeit. Leistungsausschluss von Studenten. Anforderungen an einen besonderen Härtefall. Mehrbedarf für Alleinerziehende. einstweiliger Rechtsschutz. Wiederaufnahmeverfahren. entsprechende Anwendung des § 181 SGG. Rechtsweggarantie
Leitsatz (amtlich)
1. Die Berechtigung eines Ausländers zur Ausübung einer Beschäftigung, die insgesamt 90 Tage oder 180 halbe Tage im Jahr nicht überschreitet sowie zur Ausübung studentischer Nebentätigkeiten (§ 16 Abs 3 S 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004)) genügt den Anforderungen zur rechtlichen Erwerbsfähigkeit iS des § 8 Abs 2 SGB 2. Ein Anspruch auf Sozialhilfe scheidet in diesem Fall aus (§ 21 Abs 1 S 1 SGB 12).
2. § 181 SGG kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs 2 S 2 SGG in Fällen, in denen
- das erkennende Gericht die sachliche Zuständigkeit oder Passivlegitimation eines anderen Versicherungsträgers anders beurteilt, als dies in einer endgültigen (rechtskräftigen oder bestandskräftigen) Entscheidung geschehen ist,
- eine an sich gebotene Verpflichtung des anderen Versicherungsträgers im Wege der Beiladung ausscheidet und
- dem Antragsteller, aufgrund einer gegenwärtigen Notlage, eine erhebliche Verletzung in seinen Rechten droht, die ansonsten nicht mehr beseitigt werden kann, analog angewendet werden.
Dies gilt auch im Verhältnis zwischen einem Träger der Sozialhilfe und einem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Orientierungssatz
1. Um die Fiktion des § 8 Abs 2 Alt 2 SGB 2 (die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könnte) auszulösen, reicht die abstrakt generelle Möglichkeit der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nicht aus (vgl LSG Mainz vom 17.10.2006 - L 3 ER 175/06 AS = FEVS 58, 403).
2. Rumänischen Staatsangehörigen ist die Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland derzeit nur erlaubt, wenn ihnen eine Arbeitserlaubnis-EU gem § 284 SGB 3 iVm § 39 Abs 2 AufenthG 2004 erteilt ist. Eine solche kann Unionsbürgern auch erteilt werden, wenn eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wird, mit der sie weniger verdienen als in dem Mitgliedstaat, in denen sie sich aufhalten, als Existenzminimum angesehen wird. Auch geringfügig Beschäftigte iS von § 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4 können Arbeitnehmer in diesem Sinne sein (vgl EuGH vom 18.7.2007 - C-213/05 = Slg 2007, I-6347). Damit ist er rechtlich erwerbsfähig.
3. Von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 ist grundsätzlich ausgeschlossen, wer eine dem Grunde nach nach dem BAföG objektiv förderungsfähige Ausbildung absolviert (vgl BSG vom 6.9.2007 - B 14/7b AS 28/06 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 8 und - B 14/7b AS 36/06 R = BSGE 99, 67 = SozR 4-4200 § 7 Nr 6).
4. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 5 S 1 SGB 2 erfasst nicht Mehrbedarfszuschläge iS des § 21 Abs 3 SGB 2 (vgl BSG vom 6.9.2007 - B 14/7b AS 28/06 R und - B 14/7b AS 36/06 R aaO), weil es sich hierbei um einen nicht ausbildungsbezogenen Mehrbedarf handelt. Der Mehrbedarf wird als Zuschuss gewährt.
5. Ein "besonderer" Härtefall iS des § 7 Abs 5 S 2 SGB 2 liegt erst dann vor, wenn im Einzelfall Umstände hinzutreten, die einen Ausschluss von der Ausbildungsförderung durch Hilfe zum Lebensunterhalt auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck als übermäßig hart, dh als unzumutbar oder in hohem Maße unbillig, erscheinen lassen (vgl BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 67/08 R = FEVS 61, 104).
6. Auch im Anwendungsbereich der Härteregelung des § 7 Abs 5 S 2 SGB 2 muss dem bereits in § 1 Abs 1 S 2 SGB 2 verankerten Ziel der Grundsicherung, die erwerbstätigen Hilfebedürftigen bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit zu unterstützen, hinreichend Rechnung getragen werden, indem arbeitsmarktbezogene Aspekte bei der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der besonderen Härte einzubeziehen sind.
7. Trotz Ausschluss des erwerbsfähigen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 Abs 5 SGB 2, können andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (zB Kinder) Anspruch auf Leistungen nach § 28 SGB 2 haben (vgl LSG Erfurt vom 5.8.2008 - L 9 AS 112/08 ER).
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin zu 1) wird der Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 20.11.2009 - S 14 SO 127/09 ER - im Tenor zu 1. aufgehoben und der Beigeladene einstweilig verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) einen Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende für die Zeit vom 19.10.2009 bis längstens zum 30.04.2010 in Höhe von monatlich 129,00 € nach näherer Maßgabe des Gesetzes zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragstellerin zu 1) zurückgewiesen.
2. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 20.11.2009 - S 14 SO 127/09 ER - im Tenor zu 2. insoweit abgeändert, als sie verpflichtet wurde, der Antragstellerin zu 2) vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Ka...