Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnungsgrund. Sozialhilfe nach längerer Aufenthaltsdauer. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Einreise über sicheren Drittstaat. Aufenthaltsdauer bei minderjährigem Kind. Anordnungsanspruch. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache
Leitsatz (amtlich)
1. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht einer einstweiligen Anordnung wegen begehrter Leistungen nach § 2 AsylbLG auch dann nicht entgegen, wenn Leistungen nach § 3 AsylbLG erbracht werden.
2. Reist der Asylbewerber über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland ein, liegt darin keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes iS des § 2 Abs 1 AsylbLG.
Orientierungssatz
1. Ob ein Verhalten eines Ausländers als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu werten ist, ist unter Berücksichtigung des Zwecks der Regelung zu entscheiden. Weil die Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers die Regelung des Art 16 EGRL 9/2003 umsetzen soll, ist diese zur Auslegung des § 2 Abs 1 AsylbLG heranzuziehen.
2. § 2 Abs 3 AsylbLG normiert für minderjährige Kinder keine Ausnahme von dem Erfordernis eines 36monatigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland.
Normenkette
AsylbLG § 2 Abs. 1, 3, §§ 3, 1; AsylVfG § 26a; AuslG § 51 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; GG Art. 16 a
Tenor
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 01.02.2006 wird geändert und die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Beschwerdeführern zu 1) und 2) ab dem 11.01.2006 bis zur Entscheidung über ihren Widerspruch vom 23.12.2005 längstens jedoch bis zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Die Beschwerdegegnerin trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführer zu 1) und 2). Dem Beschwerdeführer zu 3) sind keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
4. Den Beschwerdeführern zu 1) und 2) wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin D , E , beigeordnet. Der Antrag des Beschwerdeführers zu 3) auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin D wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Beschwerdeführer begehren im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Beschwerdegegnerin, ihnen für die Zeit ab dem 11.01.2006 bis zur bestandskräftigen Entscheidung über ihren Widerspruch vom 23.12.2005 Leistungen gemäß § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren.
Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige kurdischer Ethnie. Der 1965 geborene Beschwerdeführer zu 1) und die 1968 geborene Beschwerdeführerin zu 2) reisten am 03.10.2001 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 25.10.2001 Asylanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (früher Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) lehnte mit Bescheid vom 14.10.2002 die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) ebenso wie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Die Beschwerdeführer zu 1) und 2) wurden unter Fristsetzung aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und ihnen wurde die Abschiebung in die Türkei angedroht. Die Entscheidung wurde nach erfolglosen gerichtlichen Verfahren am 19.12.2003 bestandskräftig. Der am 2004 geborene Beschwerdeführer zu 3) wurde mit Bescheid der Kreisverwaltung A als zuständige Ausländerbehörde vom 14.12.2004 zur Ausreise aufgefordert. Ihm wurde für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei angedroht. Der sofortige Vollzug der Verfügung wurde angeordnet. Die Beschwerdeführer befinden sich im Besitz einer Duldung.
Zur Frage der Reisefähigkeit unterzog sich der Beschwerdeführer zu 1) am 14.03.2005 einer amtsärztlichen Untersuchung. Der Arzt für Psychiatrie H, Kreisverwaltung A, Gesundheitsamt, kam in seiner Stellungnahme vom 21.03.2005 zu dem Ergebnis, dass bei dem Beschwerdeführer zu 1) aus psychiatrischer Sicht keine Reisefähigkeit gegeben sei. Angesichts der Schwere der psychiatrischen Erkrankung mit häufigen krisenhaften Zuspitzungen in großer Abfolge und mit wiederholten Suizidversuchen sowie angesichts der trotz hoher Medikation weiter bestehenden Erregungszustände einschließlich Selbstverletzung sieht der Arzt für Psychiatrie H keine angemessenen begleitenden Vorsorgemittel, mit denen die Flugtauglichkeit sichergestellt werden könnte.
Ab dem 20.11.2001 gewährte die Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführern zu 1) und 2) und ab seiner Geburt 2004 dem Beschwerdeführer zu 3) Leistungen nach § 3 AsylbLG. Gegen die Festsetzung der Leistungen nach § 3 AsylbLG vom 09.12.2005 legten die Beschwerdeführer mit Schreiben vom 23.12.2005 Widerspruch ein und beantragten die rückwirkende Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG.
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