Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung der Landwirte. Familienversicherung. Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 94 Abs 1 KVLG wirkt nicht auf neue, durch späteres Gesetz (KVLG 1989) geschaffene Versicherungspflichttatbestände
Orientierungssatz
Die Befreiung von der Versicherungspflicht erstreckte sich nicht auf eine Versicherung aufgrund von Versicherungspflichttatbeständen, die nicht bereits im KVLG erfasst waren, sondern erst in das KVLG 1989 aufgenommen wurden, wie es bei der Versicherungspflicht als ALG II-Bezieher der Fall ist. Dafür spricht der Wortlaut des § 94 Abs 1 KVLG. Der Umfang der Befreiungswirkung ist in § 94 Abs 1 KVLG abschließend dahingehend geregelt, dass sich diese auf die "Versicherungspflicht nach § 2" bezieht, dh die Tatbestände, die nach § 2 KVLG Versicherungspflicht begründeten. Eine gesetzliche Regelung, welche die Befreiungswirkung auf solche neuen Versicherungspflichttatbestände erstreckte, existiert nicht.
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 7.6.2010 wie folgt geändert: Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 7.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.9.2008 wird festgestellt, dass der Kläger in der Zeit vom 31.8.2007 bis zum 6.4.2009 bei der Beklagten familienversichert war.
2. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Sie hat auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für das Berufungsverfahren zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob beim Kläger im Zeitraum vom 31.8.2007 bis zum 6.4.2009 die Voraussetzungen einer Familienversicherung vorlagen.
Der 1944 geborene Kläger war auf seinen Antrag auf Grund der Übergangsvorschrift des § 94 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) zum 1.10.1972 von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Landwirte befreit worden. Vom 1.3.2003 bis zum 30.9.2006 war er privat krankenversichert gewesen. Seine beigeladene Ehefrau war bis zum 4.8.2007 als Arbeitnehmerin in seinem Betrieb tätig gewesen. Anfang August 2007 hatte der Kläger einen Insolvenzantrag gestellt und sein Gewerbe zum 16.8.2007 abgemeldet.
Die Beigeladene hatte ab dem 6.8.2007 Arbeitslosengeld erhalten. Ab dem 31.8.2007 bezogen der Kläger und seine Ehefrau Arbeitslosengeld II (Alg II; vgl Bescheid des SGB II-Trägers vom 10.10.2007); der Leistungsbezug des Klägers endete am 22.7.2009 (Vollendung des 65. Lebensjahres). Seit dem 1.8.2009 bezieht der Kläger von der Alterskasse für den Gartenbau eine Regelaltersrente, die er am 7.4.2009 beantragt hatte. Die Beigeladene ist seit dem 1.8.2009 als Bezieherin einer vorzeitigen Altersrente in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) bei der Beklagten versichert.
Mit Formblatt vom 19.10.2007 (eingegangen am 23.10.2007) beantragten der Kläger und die Beigeladene bei der Beklagten die Durchführung der Familienversicherung zugunsten des Klägers. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 7.11.2007 und Widerspruchsbescheid vom 4.9.2008 ab. Zur Begründung hieß es: Die Befreiung von der Versicherungspflicht in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung gemäß § 94 Abs 1 KVLG erstrecke sich auf alle später eintretenden Versicherungsgründe des § 2 Abs 1 KVLG bzw des § 2 Abs 1 Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989; Hinweis auf Bundessozialgericht - BSG - 4.2.1977 - 11 RK 3/76). Nach § 59 Abs 1 Satz 1 KVLG 1989 könne die Befreiung von der Versicherungspflicht nach den §§ 4 und 94 Abs 1 KVLG in der bis zum 31.12.1988 geltenden Fassung nicht widerrufen werden. Mit § 10 Abs 1 Nr 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) habe der Gesetzgeber klargestellt, dass die auf ihren Antrag von der beitragspflichtigen Mitgliedschaft befreiten Personen auch nicht als Angehörige von der Solidargemeinschaft aufgenommen werden könnten. Diese Regelung sei durch § 7 Abs 1 Satz 1 KVLG 1989 unter Berücksichtigung der Besonderheiten in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung in das berufsständische System "landwirtschaftliche Krankenversicherung" übernommen worden (Hinweis auf Bundesrats-Drucksache 200/88, Seite 244). Damit habe der Gesetzgeber klargestellt, dass die von der Mitgliedschaft in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung befreiten Personen nicht den Vorteil einer Familienversicherung genießen könnten.
Mit seiner am 29.9.2008 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und zur Begründung ua auf eine Stellungnahme des Bundesversicherungsamts vom Dezember 2008 verwiesen. Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, für ihn “ab Antragstellung„ eine Familienversicherung durchzuführen. Das Sozialgericht (SG) Mainz hat durch Urteil vom 7.6.2010 die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteil...