Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Beitragszuschlag für Kinderlose. nichteheliche Lebensgemeinschaft. Stiefelternbegriff. Privilegierung der Ehe. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, der Kinder seiner Partnerin, die nicht gleichzeitig seine eigenen Kinder sind, im gemeinsamen Haushalt mit erzieht, ist nicht Elternteil im Sinne des § 55 Abs 3 S 2 SGB XI in Verbindung mit § 56 Abs 1 S 1 Nr 3 und Abs 3 Nr 2 und 3 SGB I und deshalb nicht vom Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung befreit.
Orientierungssatz
Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG liegt nicht vor.
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 21.4.2015 abgeändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob der Kläger den Beitragszuschlag für Kinderlose nach § 55 Abs. 3 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als Bestandteil des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung zu leisten hat.
Der Kläger lebte in den Jahre 1996 bis 2013 mit seiner früheren Lebensgefährtin und deren leiblichen Kindern (1991 geborener Sohn, 1994 geborene Tochter) zusammen. Er trug zur Erziehung und zum Unterhalt der Kinder bei. Seit dem 1.1.2012 ist er bei der Beklagten pflegeversichert. Sein Arbeitgeber führte an die Beklagte für ihn im Rahmen der Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge jeweils den für Kinderlose im Vergleich zu Elternteilen um 0,25 Prozent erhöhten Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ab. Unter dem 4.2.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung des geleisteten Beitragszuschlags für Kinderlose, weil die beiden Kinder seiner früheren Lebensgefährtin in seinem Haushalt gelebt hätten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 7.2.2014 und Widerspruchsbescheid vom 10.4.2014 ab, da der Kläger nicht Stiefvater der Kinder seiner früheren Lebensgefährtin und daher gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI zur Entrichtung des Beitragszuschlags für Kinderlose verpflichtet gewesen sei.
Mit seiner am 9.5.2014 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Durch Urteil vom 21.4.2015 hat das Sozialgericht (SG) Mainz den angefochtenen Bescheid aufgehoben, soweit er die Freistellung vom Beitragszuschlag für Kinderlose für noch nicht gezahlte Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung betreffe, sowie die Beigeladene, die jetzige Arbeitgeberin des Klägers, verurteilt, für den Kläger ab dem Monat April 2015 den Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ohne den Beitragszuschlag für Kinderlose abzuführen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klage habe hinsichtlich des Beitragszuschlages für die Zeit vom 1.1.2012 bis zum 31.3.2015 keinen Erfolg, da der Kläger in diesem Zeitraum nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI zur Zahlung des nicht reduzierten Beitrages zur sozialen Pflegeversicherung verpflichtet gewesen sei. Zu den Eltern im Sinne des § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI iVm § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) gehörten auch Stiefeltern. Die Stiefelterneigenschaft setze aber ein verfestigtes, mehrjähriges Elternteil-Kind-Verhältnis voraus. Den insoweit nach § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI erforderlichen Nachweis habe der Kläger gegenüber der Beigeladenen nicht vor dem Monat März 2015 erbracht. Die Klage sei jedoch hinsichtlich des Beitragszuschlages für den Zeitraum ab April 2015 begründet. Der Nachweis der Stiefelterneigenschaft sei seit der durch das SG im Klageverfahren durch Beschluss vom 10.3. 2015 erfolgten Beiladung als erbracht anzusehen. Die Eigenschaft als Stiefkind setze nicht die Ehe zwischen einem leiblichen Elternteil oder Adoptivelternteil und dem Stiefelternteil voraus (Hinweis auf Sozialgericht - SG -Kassel 26.3.2008 - S 7 R 578/05). Gegen das herkömmliche Verständnis des Begriffs der Stiefelterneigenschaft sprächen verschiedene Entwicklungen im juristisch-gesellschaftlichen Verständnis. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die gelebte Elternschaft in den Schutzbereich des Art 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) einbezogen; durch dieses Grundrecht sei die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern mit Kindern unabhängig von der Verwandtschaft im Rechtssinne geschützt (Hinweis auf BVerfG 19.2.2013 - 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09, juris Rn 62). Zudem werde in der Forschung und von der Bundesregierung und den Landesregierungen in der Familienberichterstattung ein erweiterter Stiefelternbegriff verwandt, wonach auch bei nichtverheirateten Paaren, in deren Haushalt die biologischen Kinder eines Elternteils aufwüchsen, der andere Teil Stiefelternteil sein könne.
Gegen dieses ihr am 30.6.2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 23.7.2015 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt, der Begriff der ...