Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Befugnis des Beschwerdeausschusses zum Erlass neuer Bescheide während Klage- und Berufungsverfahren. Off-label-Use. Unzulässigkeit einer Reduzierung der Regresshöhe bei nicht notwendiger medizinischer Behandlung. keine Befugnis des Beschwerdeausschusses zur erneuten Entscheidung über bereits entschiedene Angelegenheiten
Orientierungssatz
1. Der Beschwerdeausschuss ist befugt, in Bezug auf den Streitgegenstand während des Klage- bzw Berufungsverfahrens neue Bescheide zu erlassen (vgl BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 R = SozR 4-2500 § 106 Nr 26).
2. Zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Off-label-Use (vgl BSG vom 13.10.2010 - B 6 KA 48/09 R = SozR 4-2500 § 106 Nr 30).
3. War eine konkret durchgeführte Behandlung medizinisch nicht notwendig, sind die Kosten in voller Höhe in Regress zu nehmen; eine Reduzierung der Regresshöhe ist nicht zulässig. Ein Verstoß gegen Art 14 GG ist bei einer solchen Sachlage nicht gegeben.
4. Ein Beschwerdeausschuss ist nicht befugt, ohne Beachtung der Bindungswirkung seiner zuvor beschlossenen und dem Vertragsarzt bereits mitgeteilten Entscheidungen erneut über die Sache zu befinden.
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4.5.2011 wie folgt abgeändert: Die Bescheide des Beklagten vom 28.8.2009 werden insoweit aufgehoben, als gegen den Kläger ein höherer Regress als 23.810,41 € (Verordnungen für Versicherte der Beigeladenen zu 2. im Zeitraum I/2002 bis II/2004 und für Versicherte von Mitgliedskassen des Beigeladenen zu 6. in den Quartalen I - IV/2003) ausgesprochen wurde. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger und der Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten beider Instanzen. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist die Rechtmäßigkeit von Arzneimittelregressen für die Quartale I/2002 bis II/2004 in Höhe von insgesamt 45.373,08 €.
Der Kläger ist Chefarzt der Frauenklinik mit Perinatal- und Brustzentrum der W K GmbH in K.. Er nimmt seit dem 4.11.1993 aufgrund von Ermächtigungen an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der Beigeladenen zu 1. teil. Mit Schreiben vom 6.2.2003, 31.3.2003, 25.6.2003 und 22.9.2003 informierte der Prüfungsausschuss den Kläger über die Einleitung von Wirtschaftlichkeitsprüfungen hinsichtlich der Arzneiverordnungsweise in den Quartalen I/2002 bis IV/2002. Der Kläger wies darauf hin, dass die Frauenklinik als überregionales onkologisches Zentrum einen hohen Anteil an Mammakarzinom-Patientinnen habe; in der gynäkologischen Ambulanz würden pro Jahr ca 1.300 Zyklen Chemotherapie verabreicht; neben den kostspieligen Chemotherapeutika müssten weitere teure Medikamente zur Knochenmarksstimulation eingesetzt werden; Abweichungen im Verhältnis zu der normalen Praxis eines niedergelassenen Gynäkologen seien daher nicht verwunderlich. Mit Prüfbescheid vom 3.5.2005 erteilte der Prüfungsausschuss betreffend die Quartale I/2002 bis IV/2002 Hinweise hinsichtlich verschiedener kritisch zu bewertender Medikamente. Zusätzlich erging ein Hinweis an die Schlichtungsstelle der Beigeladenen zu 1. wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung (verschiedene Unterschriften auf Arzneirezepten). Einen Regress setzte der Prüfungsausschuss nicht fest. Gegen diesen Bescheid legte die Beigeladene zu 2. (AOK) Widerspruch ein und führte zur Begründung an: Zwar habe der Prüfungsausschuss zu Recht festgestellt, dass ein Vergleich der Arzneimittelverordnungsweise mit einer durchschnittlichen gynäkologischen Praxis nicht sachgerecht sei. Es werde aber um Anwendung der angemessenen Prüfmethode gebeten, da die erteilten Hinweise dem Prüfauftrag nicht gerecht würden.
Mit Schreiben vom 22.10.2004 und 11.2.2005 wurde der Kläger über die Einleitung einer Wirtschaftlichkeitsprüfung wegen der Arzneiverordnungsweise in den Quartalen I/2003 bis IV/2003 informiert. Der Kläger nahm hierzu Stellung und wiederholte seine Angaben zu den vorangehenden Quartalen. Durch Prüfbescheid vom 19.7.2005 erteilte der Prüfungsausschuss für die Quartale I/2003 bis IV/2003 Hinweise bezüglich vereinzelter Arzneiverordnungen, zu denen kein Behandlungsschein existiere und folglich kein Leistungsanspruch nachgewiesen sei, und hinsichtlich verschiedener kritisch zu bewertender Medikamente. Zusätzlich erging ein Hinweis an die Schlichtungsstelle der Beigeladenen zu 1 wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung (verschiedene Unterschriften auf Arzneirezepten). Auch gegen diesen Bescheid legte die Beigeladene zu 2 mit einer gleichlautenden Begründung wie zu den Vorquartalen Widerspruch ein. Außerdem legte der Beigeladene zu 6. gegen diesen Bescheid Widerspruch ein.
Mit Schreiben vom 22.3.2005 ...