Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Kranken- und Pflegeversicherung. Hilfsmittel. Versorgung mit einem zum Trippeln geeigneten Greifrollstuhl. Erbringung von Rehabilitationsleistungen als zweitangegangener Träger. spezialgesetzlicher Erstattungsanspruch nach § 14 Abs 4 SGB 9
Leitsatz (amtlich)
Das allgemeine Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit (sog mittelbarer Behinderungsausgleich, § 33 Abs 1 S 1 Alt 3 SGB 5) umfasst auch die selbstständige Fortbewegung eines Rollstuhlfahrers mittels Trippeln jedenfalls dann, wenn eine andere Möglichkeit zur eigenständigen Ortsveränderung nicht besteht und eine Kommunikationsunfähigkeit gegeben ist.
Orientierungssatz
1. Ein Sozialhilfeträger als zweitangegangener Rehabilitationsträger hat im Verhältnis zu einem Behinderten Rehabilitationsleistungen nach allen Rechtsgrundlagen zu erbringen. Dies steht einer Verurteilung der Krankenkasse als Beigeladene entgegen (vgl BSG vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R = BSGE 102, 90 = SozR 4-2500 § 33 Nr 21).
2. Im Verhältnis der Rehabilitationsträger untereinander räumt § 14 Abs 4 SGB 9 jedoch dem "zweitangegangenen Träger" einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich "eigentlich" / originär zuständigen Rehabilitationsträger ein, der den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB 10 vorgeht (vgl BSG vom 26.06.2007 - B 1 KR 36/06 R = BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4).
3. Ein zweiter Rollstuhl kann nicht als Pflegehilfsmittel iS der sozialen Pflegeversicherung angesehen werden.
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 08.01.2009 - S 12 SO 74/07 - sowie der Bescheid des Beklagten vom 21.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2007 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einem passenden Greifrollstuhl mit Sitzschale nach Maß, Beckengurt und Therapietisch zu versorgen, der ihr ein selbständiges Fortbewegen ermöglicht.
2. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem passenden Greifrollstuhl mit angepasster Sitzschale und Therapietisch.
Die 19 geborene Klägerin leidet als Folge eines frühkindlichen Hirnschadens an einer Mehrfachbehinderung. Sie kann nur mit Hilfe wenige Schritte gehen und ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie trägt orthopädisches Schuhwerk und zwei Knieschienen. Aufgrund der Wirbelsäulenveränderungen benötigt sie eine angepasste Sitzschale. Mit einem Greifrollstuhl (Aktivrollstuhl) kann sie sich in geschlossenen Räumen durch Trippeln und ergänzendes Greifen des Antriebsrads mit der linken Hand zielgerichtet fortbewegen. Es besteht auch eine geistige Retardierung, ein Anfallsleiden sowie eine Unfähigkeit zu sprechen sowie Bedürfnisse mitzuteilen. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt und sie erhält von der Pflegekasse ein Pflegegeld nach Pflegestufe III mit zusätzlichen Betreuungsleistungen. Von dem Beklagten bezog sie Grundsicherungsleistungen nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) und erhält seit 2005 Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Sie besucht wochentags eine Tagesförderstätte und wird durch einen Fahrdienst im Rollstuhl sitzend transportiert.
Von der Beigeladenen, bei der sie krankenversichert ist, wurde sie im Jahr 1999 mit einem Greifrollstuhl (Aktivrollstuhl Sopur Easy HP) mit Sitzschale versorgt; dieser Rollstuhl wurde von der Beigeladenen 2002/2003 aufgrund eines wachstumsbedingten Änderungsbedarfs angepasst. Im Jahr 2003 erhielt sie von der Beigeladenen einen weiteren Rollstuhl (Eurochair Hemi-Spezial 1840 der Firma M ), der nach der Beschreibung des Herstellers besonders zum Trippeln geeignet ist und nach Angaben der Beigeladenen damals der Sicherstellung des Transports zur Schule dienen sollte. Im Jahr 2006 versorgte die Beigeladene die Klägerin mit einem elektrischen Radnabenantrieb (E-Fix) für den Aktivrollstuhl Sopur Easy (Rechnung vom 28.07.2006), der im Jahr 2008 mit einer Fremdsteuerung nachgerüstet wurde, da die Klägerin den E-Fix nicht zielgerichtet selbst bedienen lernte. Mit diesem Rollstuhl kann sie nicht trippeln, da er zu schwer ist und ihre Füße den Boden nicht vollständig erreichen.
Am 02.11.2006 beantragte sie bei der Beigeladenen die Neuversorgung mit einem Greifrollstuhl als Zweitversorgung für die Tagesförderstätte. Sie benötige aufgrund ihres Wachstums einen neuen Rollstuhl, der auch mit einer Sitzschale ausgestattet sein müsse. Mit diesem Rollstuhl könne sie sich in der Tagesförderstätte durch Trippeln eigenständig fortbewegen. Zur Zeit nutze sie in der Tagesförderstätte noch den alten, aber mittlerweile ungeeigneten Rollstuhl. Sie legte eine Bescheinigung des Dr. S vom 20.09.2006 und einen Kostenvoranschlag vom 19.10.2006 über die Versorgung mit einem Rollstuhl Sopur Easy 160 HP Aktiv-Faltfahrer Grundmodell mit...