Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelpreisvereinbarung gemäß § 129a SGB 5 zwischen Krankenkasse und Krankenhausapotheke. Rückerstattung von zu Unrecht gezahlter Umsatzsteuer auf individuell hergestellte parenterale zytostatikahaltige Zubereitungen nach rückwirkender Änderung der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung zur Umsatzsteuerpflichtigkeit der Abgabe individuell hergestellter Zytostatika im Jahr 2016. ergänzende Vertragsauslegung einer Bruttopreisvereinbarung

 

Orientierungssatz

1. Zur Vervollständigung einer zwischen Krankenhausapotheke und Krankenkasse getroffenen Bruttopreisvereinbarung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung, wenn die Arzneimittelpreisvereinbarung (AMPV) gemäß § 129a SGB 5 objektiv die Situation nicht regelt, dass sich die für die Umsatzsteuerberechnung maßgebliche Auffassung der Finanzverwaltung zur Umsatzsteuerpflicht der Abgabe von Zytostatikazubereitungen durch Krankenhausapotheken ändert und die faktische Umsatzsteuerpflicht rückwirkend aufgehoben wird.

2. Bei einer Bruttopreisvereinbarung kann in der Regel weder der Leistende eine wider sein Erwarten anfallende Umsatzsteuer von seinem Vertragspartner nachfordern noch der Leistungsempfänger im Falle der Umsatzsteuerfreiheit den auf die Umsatzsteuer entfallenden Anteil seiner Vergütung zurückverlangen (vgl BSG vom 3.3.2009 - B 1 KR 7/08 R = juris RdNr 16). Allerdings ist eine Bruttopreisabrede nicht einer Festpreisabrede gleichzustellen; vielmehr hängt es von dem durch Auslegung zu ermittelnden wirklichen Willen der Vertragsparteien ab, ob und inwieweit die getroffene Preisvereinbarung abschließend sein soll (vgl BGH vom 10.6.2020 - VIII ZR 360/18 = juris RdNr 44ff). Ausnahmen vom abschließenden Charakter der Bruttopreisvereinbarung sind nach den Umständen des Einzelfalles möglich (vgl auch LSG Mainz vom 6.7.2017 - L 5 KR 105/16 = juris RdNr 31).

3. Zu den Voraussetzungen der ergänzenden Vertragsauslegung (§ 69 Abs 1 S 3 SGB 5 iVm § 157 BGB) einer AMPV.

4. Das Instrument der ergänzenden Vertragsauslegung zielt nicht darauf ab, die Regelung nachzuzeichnen, die die Parteien bei Berücksichtigung des nicht bedachten Falls tatsächlich getroffen hätten, sondern ist auf einen beiderseitigen Interessenausgleich gerichtet, der aus einer objektiv-generalisierenden Sicht dem hypothetischen Parteiwillen beider Parteien Rechnung trägt. Maßgebend ist damit bei einer Bandbreite möglicher Alternativen diejenige Gestaltungsmöglichkeit, die die Vertragsparteien bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise ausgewählt hätten. Dementsprechend ist eine ergänzende Vertragsauslegung im Falle des Bestehens mehrerer Auslegungsmöglichkeiten nur dann ausgeschlossen, wenn sich anhand der getroffenen Regelungen und Wertungen sowie aufgrund des Sinns und Zwecks des Vertrags keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen - an den beschriebenen Maßstäben ausgerichteten - hypothetischen Parteiwillen ergeben (vgl BGH vom 10.6.2020 - VIII ZR 360/18 = juris RdNr 39 mwN).

5. Die Vertragspartner nach § 129a SGB 5 sind gesetzlich gehalten, eine umfassende vertragliche Regelung der Abgabepreise zu vereinbaren. Es entspricht dann dem hypothetischen Willen der Vertragspartner, insgesamt eine vertragliche, nicht lediglich eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung vorzusehen (entsprechend BSG vom 9.4.2019 - B 1 KR 5/19 R = BSGE 128, 65 = SozR 4-2500 § 129a Nr 2, RdNr 26), zumal ein aus ergänzender Vertragsauslegung folgender Rückzahlungsanspruch in erster Linie vertraglicher Natur ist (vgl BGH vom 10.6.2020 - VIII ZR 360/18 = juris RdNr 41).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 18.08.2022; Aktenzeichen B 1 KR 13/21 R)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 23.04.2018 wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 217.686,61 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Rückzahlung von ihrer Ansicht nach im Jahr 2009 zu Unrecht an die Beklagte gezahlter Umsatzsteuer auf individuell hergestellte Zytostatika in Höhe von noch 217.686,61 €.

Die klinikumseigene Apotheke (im Folgenden: Krankenhausapotheke) der Beklagten, Trägerin eines zur Versorgung Versicherter zugelassenen Krankenhauses, stellte individuell für Versicherte der klagenden Krankenkasse Zytostatika her und gab sie an diese zur ambulanten Behandlung im Krankenhaus der Beklagten durch deren Krankenhausärzte ab. Im Jahr 2009 zahlte die Klägerin hierfür insgesamt 1.392.860,46 € an die Rechenzentrum AvP H GmbH, die die Beklagte unter Forderungsabtretung als Dienstleister mit den Abrechnungen beauftragt hatte. Als Berechnungsgrundlage für den Preis der Zytostatika diente eine zwischen der Beklagten und der Klägerin am 31.03.2005 mit Wirkung ab dem 01.04.2005 schriftlich abgeschlossene "Vereinbarung gemäß § 129a SGB V über die Abgabe von Arzneimitteln der Krankenhausapotheke an Versicherte gemäß § 14 Abs. 4 Apot...

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