Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopfer. Schockschaden. psychische Beeinträchtigung von Familienangehörigen aufgrund veränderter Lebensumstände
Orientierungssatz
Ein zur Versorgung nach dem OEG berechtigender Schockschaden (vgl hierzu insbesondere BSG vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 = BSGE 49, 98 = SozR 3800 § 1 Nr 1) liegt nicht vor, wenn die psychischen Beeinträchtigungen von Familienangehörigen nicht unmittelbar durch die Kunde von der Gewalttat, sondern durch die nachfolgende stete Konfrontation mit den bei dem Opfer bestehenden bleibenden Folgeschäden hervorgerufen worden sind.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die im Jahre 1954 geborene Klägerin zu 1, ist die Ehefrau, die im Jahre 1985 geborene Klägerin zu 2. ist die Tochter des Polizeibeamten J W (Geschädigter).
Der Geschädigte wurde während der Ausübung seines Polizeidienstes am 22.7.1991 -- etwa um 20.30 Uhr -- anläßlich einer Ausweis- und Fahrzeugkontrolle durch zwei gezielte Schüsse am Kopf lebensgefährlich verletzt. Nach seiner Erstversorgung durch den Notarzt erfolgte die Einlieferung ins Chirurgische Zentrum der Universität F zur Behandlung der offenen Schädel-Hirn-Verletzung. In den folgenden Wochen wurden mehrere Operationen durchgeführt (Implantation eines Druckwandlers, Entfernung zerstörter Hirnteile, Einlegung eines Hirnkatheters). Am 2.10.1991 wurde der Geschädigte in die Neurologische Klinik T in H verlegt, wo er fast ein Jahr verblieb. Bei seiner Entlassung am 18.9.1992 war der Geschädigte nicht in der Lage, sich alleine zu versorgen. Es konnte nur eine Rollstuhlmobilisierung erreicht werden. Er leidet an einer spastischen Hemiparese und einer durchgehenden Gefühlsstörung der linken Seite. Gehen ist ihm auch mit fremder Hilfe nicht möglich, der linke Arm zeigt keine Funktion und steht gebrauchsunfähig in Beugestellung; es besteht eine völlige Versteifung des Hüftgelenkes. Psychisch leidet er an einem Psychosyndrom mit allgemeiner und kognitiver Verlangsamung, an einer Einschränkung der Merk- und Konzentrationsfähigkeit; es besteht eine geringe emotionale Schwingungsfähigkeit, eine fatalistische Grundeinstellung mit depressiven und aggressiven Phasen. Seit der Entlassung aus der Neurologischen Klinik H wird der Geschädigte von der Klägerin zu 1. gepflegt.
Am 21.7.1992 stellten die Klägerinnen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung machten sie jeweils "starke psychische Belastungen" geltend.
Bezüglich der Klägerin zu 1. teilte die Ärztin Dr. W auf Anfrage des Versorgungsamtes im Befundbericht vom 16.12.1992 mit, auf die völlige Änderung der Lebenssituation habe die Klägerin zu 1. mit einer Vielzahl von psychovegetativen Beschwerden reagiert. Es bestehe eine deutliche Depressionsneigung mit eingeschränkter Schwingungsfähigkeit und trauriger Verstimmtheit. Sie leide an Schlafstörungen, nächtlichen Alpträumen, zeitweiligem Herzrasen, migräne-artigen Kopfschmerzen einmal wöchentlich von mehrstündiger Dauer mit Übelkeit, Lichtscheu und Erbrechen. Das schon vorher bestehende Wirbelsäulenleiden habe sich deutlich verschlimmert als Ausdruck der allgemeinen Angespanntheit. Zur Zeit erhalte sie sedierende Medikamente und entlastende Gespräche ca alle 14 Tage.
Bezüglich der Klägerin zu 2. teilte Frau Dr. W im Befundbericht vom 16.12.1992 mit, das Kind habe eine besonders enge Beziehung zum Vater gehabt und verkrafte die neue Situation sehr schlecht. Auf der einen Seite bestehe nunmehr eine gestörte Beziehung zum Vater, der ein hirnorganisches Psychosyndrom erlitten habe und in seiner Stimmungslage sehr wechselhaft sei; seine Reaktionen und Erziehungsmaßnahmen seien für das Kind nicht durchschaubar. Zum anderen sei die Mutter durch die Pflege des Vaters sowohl zeitlich als auch emotional sehr belastet, so daß auch in dieser Beziehung Konfliktsituationen entstanden seien. Dem Kind sei eine deutliche traurige Gestimmtheit anzumerken mit häufiger Rückzugstendenz. Es habe Schlafstörungen, nächtliche Alpträume und neige jetzt -- im Gegensatz zu früher -- zu schnellem Weinen. Außerdem sei das Kind sehr verschlossen.
Mit Bescheiden vom 26.4.1993 lehnte das Versorgungsamt F die Gewährung von Leistungen nach dem OEG ab. Zur Begründung wird im wesentlichen gleichlautend ausgeführt, die Gesundheitsstörungen der Klägerinnen seien nicht unmittelbar infolge der Gewalttat entstanden. Es handele sich vielmehr um spätere Rückwirkungen auf die durch die Gewalttat entstandene völlige Veränderung der Lebenssituation und damit um mittelbare Folgen. Hierfür sei ein Anspruch nach dem OEG nicht gegeben.
Die Widersprüche der Klägerinnen wies das Landesversorgungsamt mit Widerspruchsbescheiden vom 27.7.1993 (Klägerin zu 1.) und 28.7.1993 (Klägerin zu 2.) zurück. Die Angehörigen des Verletzten seien durch die Gewalttat nicht unmittelbar betroffen, es seien vielmehr die Behinderungen des Opfers, die d...