Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrecht. Auszahlung von Geldleistungen. Übermittlung an den Wohnsitz. Begriff des Wohnsitzes. Übermittlung in die Wohnung nur in Ausnahmefällen
Orientierungssatz
1. Wohnsitz iS des § 47 Abs 1 SGB 1 ist nicht die Wohnung des Betroffenen, sondern der Wohnort (vgl LSG Stuttgart vom 16.4.2013 - L 11 R 190/12 und LSG Halle vom 19.12.2013 - L 4 P 21/13 B ER).
2. Lediglich in atypischen Ausnahmefällen kommt ein Anspruch auf Barauszahlung der Leistungen in der Wohnung in Betracht (Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eines Aufsuchens der Auszahlungsstelle des Leistungsträgers sowie der Eröffnung eines Kontos).
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 11.7.2014 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu er-statten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Übermittlung bewilligter Grundsicherungsleistungen in seine Wohnung hat.
Der Kläger bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII). Unter dem 22.7.2013 beantragte er bei der Beklagten die Übermittlung der Leistungen an seinen „derzeitigen Wohnsitz“. Zur Begründung berief er sich auf § 47 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und machte geltend, er habe zur-zeit kein eigenes Konto.
Am 20.3.2014 hat der Kläger Klage erhoben. Der Beklagte hat vorgetragen: Dem Kläger fehle es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Dieser habe zuletzt am 31.1.2014 seine Auszahlungsstelle aufgesucht, um Leistungen entgegenzunehmen, sei jedoch nach fünf Minuten wieder verschwunden.
Durch Urteil vom 11.7.2014 hat das Sozialgericht (SG) Mainz die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Für die Klage fehle es nicht am erforderlichen Rechtsschutzinteresse. Das Begehren des Klägers sei so zu verstehen, dass er die Übermittlung der bewilligten Geldleistungen nicht an seinen Wohnsitz im Sinne eines politischen Ortes, sondern an seine Wohnadresse wünsche; da die Beklagte diesem Ansinnen nicht entsprechen wolle, könne das Rechtsschutzbedürfnis nicht verneint werden. Die Klage sei aber nicht begründet. Mit dem Wohnsitz im Sinne des § 47 Abs 1 SGB I sei nicht die konkret innegehabte Wohnung gemeint. Aus dieser Vorschrift ergebe sich vielmehr nur ein Anspruch auf Barauszahlung in der politischen Gemeinde, in welcher der Leistungsberechtigte seinen Wohnsitz habe. Da § 47 Abs 1 SGB I eine Sollvorschrift sei, komme zwar in atypischen Fällen auch eine Übermittlung der Geldleistung auf andere Weise, beispielsweise durch einen Boten in die Wohnung des Berechtigten, in Betracht. Ein atypischer Fall sei aber beim Kläger nicht gegeben. Er wohne innerhalb des geschlossenen Stadtgebiets der Stadt W in knapp drei Kilometern Entfernung vom Dienstgebäude des Beklagten. Der Kläger sei nicht derart in seinen Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, dass er nicht in der Lage wäre, einmal im Monat zur Zahlstelle des Beklagten zu kommen und die Leistungen für den jeweiligen Monat abzuholen. Zudem sei er zum Termin zur mündlichen Verhandlung des SG in Mainz erschienen, weshalb kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich sei, dass er deutlich kürzere Wegstrecken innerhalb der Stadt W nicht bewältigen könnte. In dem ihm bewilligten Regelsatz zur Sicherung seines Lebensunterhalts seien Kosten für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs jedenfalls in einem Umfang berücksichtigt, der Busfahrten innerhalb des Stadtgebietes einmal pro Monat ohne weiteres einschließe. Fahrten und Gänge zur Abholung des Geldes bei der Zahlstelle des Beklagten könne er mit sonstigen im Stadtzentrum anfallenden Erledigungen verbinden.
Gegen dieses ihm am 10.10.2014 zugestellte Urteil richtet sich die am 7.11.2014 eingelegte Berufung des Klägers, der vorträgt: Es treffe nicht zu, dass § 47 SGB I unter dem „Wohnsitz“ den Wohnort verstehe. Bei der Entscheidung über einen atypischen Fall im Sinne dieser Vorschrift müsse auf seine Behinderungen und seine Schwerbehinderteneigenschaft Rücksicht genommen werden. Er sei in seiner Orientierungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Die Beklagte hätte die Möglichkeit, ihm einen Barscheck zu übersenden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Mainz vom 11.7.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII an seine derzeitige Wohnung zu übermitteln.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Beim Kläger lägen keine Mobilitätseinschränkungen vor, welche die Notwendigkeit der Auszahlung der Leistungen in der Wohnung rechtfertigten. Außerdem habe der Kläger nicht dargelegt, warum es ihm unmöglich sein solle, wieder ein Bankkonto zu eröffnen. Der Beklagte hat Unterlagen aus seiner Verwaltungsakte vorgelegt, welche (auch) den Gesundheitszustand des Klägers betreffen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Proz...