Leitsatz (amtlich)

1. Solange ein psychisch erkrankter Versicherter in einer Krankenanstalt noch mit dem Ziel der Besserung seines Leidenszustandes oder zur Linderung seiner Krankheitsbeschwerden nach einem sinnvollen Behandlungsplan behandelt wird und die ärztliche Behandlung vorrangiger Zweck des Krankenhausaufenthaltes ist, bleibt die KK verpflichtet, unabhängig von der jeweiligen Verweildauer, die ihr obliegenden gesetzlichen Leistungen zu erbringen.

2. Daß die Behandlung des psychisch Erkrankten wegen der Unheilbarkeit seines Leidens nicht mehr auf die Entlassung aus dem Krankenhaus ausgerichtet ist, steht der Annahme eines Behandlungsfalles nicht entgegen.

 

Verfahrensgang

SG Koblenz (Urteil vom 20.10.1976; Aktenzeichen S 2 K 46/75)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 10.10.1978; Aktenzeichen 3 RK 11/78)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 20. Oktober 1976 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat den Klägern auch die im Berufungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger sind gemäß Erbschein des Amtsgerichts Neuwied vom 11. November 1975 die Erben der 1895 geborenen und am … 1975 gestorbenen Versicherten F. Sch., die bei der Beklagten als Rentnerin gegen Krankheit versichert war. Die Versicherte wurde am 24. März 1972 wegen eines manischen Verstimmungszustandes in der Nervenklinik St. A.-Haus in W. aufgenommen, nachdem sie sich schon zuvor des öfteren wegen endogener Depressionen in ambulanter und stationärer Behandlung befunden hatte. Aufgrund einer am 30. Juli 1974 erfolgten Krankenhausbegehung teilte Obermedizinalrat Dr. R. von der vertrauensärztlichen Dienststelle der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz in N. der Beklagten am 31. Juli 1974 mit, bei der Versicherten müsse noch bis einschließlich 13. August 1974 ein Behandlungsfall, dann aber ab 14. August 1974 ein Pflegefall angenommen werden. Daraufhin schrieb die Beklagte dem Kläger zu 1) auf dessen Anfrage am 19. November 1974, da bei der Versicherten ab 14. August 1974 ein Pflegefall vorliege, entfalle ab diesem Zeitpunkt ihre Leistungspflicht und erläuterte diesen Bescheid durch ein weiteres Schreiben vom 14. Januar 1975 und ein an den Kläger zu 2) als den bestellten Pfleger der Versicherten gerichtetes Schreiben vom 20. März 1975. Den Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 1. August 1975 mit der Begründung zurück, da es sich bei der Versicherten um einen Pflegefall handele, ruhe deren Anspruch auf Krankenhilfe; denn sie sei ab 14. August 1974 in der Nervenklinik dauernd zur Pflege untergebracht und erhalte dort im Rahmen ihrer gesamten Betreuung Krankenpflege.

Im Klageverfahren legten die Kläger eine Bescheinigung des Chefarztes Dr. M. von der Nervenklinik St. A.-Haus vom 11. Februar 1975 vor. Darin heißt es, die Versicherte werde wegen einer Altersdepression in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung seines Hauses behandelt. Neben dieser ständig behandlungsbedürftigen Gemütserkrankung leide sie an einer Herzinsuffizienz und einer altersbedingten Hirnaderverkalkung. Sie erhalte ständig eine Anzahl von Psychopharmaka und ein Digitalispräparat. Nur durch diese ständige Behandlung könnten die Krankheitsbeschwerden gelindert werden. Eine Aussicht auf Heilung bestehe angesichts des hohen Alters der Versicherten wohl nicht mehr.

In dem vom Sozialgericht Koblenz (SG) eingeholten Gutachten führte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vom St. A.-Haus am 13. Juni 1976 aus: Die am 27. August 1975 an einem apoplektischen Insult gestorbene Versicherte habe an einer endogenen Depression mit biphasischera Verlauf, einer Altersherzinsuffizienz und cerebralen Durchblutungsstörungen gelitten. Durch die Behandlung mit Thymoleptika und Neuroleptika sowie mit Medikamenten zur Herz-, Durchblutungs- und Antirheumatherapie sei eine allmähliche Besserung ihres bei Aufnahme bestehenden Zustandes erreicht worden. Geplante Entlassungsversuche hätten allerdings wegen des mehrfachen, ziemlich nahtlos erfolgten Auftretens von depressiven und manischen Phasen immer wieder zurückgestellt werden müssen. Die Versicherte sei während des gesamten Aufenthaltes im St. A.-Krankenhaus ein Behandlungsfall gewesen, weil sie wegen des phasenhaften Krankheitsverlaufs dringend einer ständigen psychiatrischen Behandlung bedurft habe. Für die von dem Vertrauensarzt Dr. R. geäußerte Meinung, die Versicherte sei ab 14. August 1974 kein Behandlungsfall mehr, habe offensichtlich nicht die Behandlungsunfähigkeit der Versicherten, sondern der lange Klinikaufenthalt den Ausschlag gegeben.

Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 20. Oktober 1976 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, für die Zeit nach dem 13. August 1974 bis zum Tod der Versicherten die gesetzlichen Leistungen aus der Krankenversicherung für deren Aufenthalt im St. A.-Haus in W. zu erbringen. Es hat dargelegt, solange eine ärztliche Behandlung mit Medikamenten noch zu einer Linderu...

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