Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch im Kindesalter. Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung. Nachweis. Amtsermittlungspflicht. Anwendbarkeit der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Glaubhaftmachung. klinisch-psychosomatische Begutachtung. aussagepsychologisches Begutachtung

 

Orientierungssatz

1. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG ist auch dann anzuwenden, wenn Beweismittel zwar zur Verfügung stehen, die Erhebung dieser Beweise aber für das Verbrechensopfer unzumutbar ist.

2. Eine Zeugenvernehmung, die nach überzeugenden Darlegungen verschiedener Sachverständiger zu einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin führt, überschreitet die Pflicht zur Amtsermittlung und muss deshalb unterbleiben.

3. Für die Glaubhaftmachung iS des § 15 KOVVfG sind nicht die vom BGH (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 = BGHSt 45, 164) aufgestellten Grundsätze für eine aussagepsychologische Begutachtung (Null-Hypothese) heranzuziehen. Nach Ansicht des erkennenden Senats ist die klinisch-psychosomatische Begutachtung in Fällen der Begutachtung von Traumaopfern im Opferentschädigungsrecht aussagekräftiger als die aussagepsychologische Begutachtung.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 23.04.2013; Aktenzeichen B 9 V 4/12 R)

 

Tenor

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 05.11.2009 wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die ... 1962 geborene Klägerin beantragte erstmals im September 1993 die Anerkennung von Gesundheitsstörungen auf psychischem Fachgebiet (Essstörungen, Schuldgefühle, Ekel, Depressionen, Todesangst) als Folgen von Gewalttaten. Zur Begründung machte sie geltend, von 1965 bis 1978 sei sie, insbesondere von ihrem Vater, sexuell missbraucht worden. Der Vater habe sie gegen ihren Willen betastet, auf den Schoss genommen, verlangt, dass sie ihn küsse; er habe ihr ein Kleid zerrissen, ihr die Kleider mit Einsatz von körperlicher Gewalt ausgezogen, sie an den Haaren gerissen und sich auf sie gelegt. Mindestens einmal habe sie danach im Scheidenbereich geblutet. Der Vater sei auch mehrfach nachts zu ihr ins Bett gekommen. Sie habe ihrer Mutter Bescheid gesagt, aber von ihr keine Hilfe erhalten. Die Mutter habe vielmehr gesagt, sie müsse eben herhalten, sonst gehe der Vater an die Anderen. Ihr Vater sei Lehrer, unterrichte auch in Pädagogik und Soziologie und gehöre dem Presbyterium an. Nach außen sei alles vertuscht worden. Sie habe über viele Jahre all die belastenden Erlebnisse und Erfahrungen in sich hineingeschluckt und zunehmend unter Angst, Ekel und Schuldgefühlen gelitten. Zudem hätten sich Gewichtsprobleme eingestellt. 1968 sei sie deswegen in eine Kur geschickt worden. Das Jugendamt P... habe 1968/1969 in irgendeiner Form etwas von ihren Schwierigkeiten mitbekommen. Unter Umständen seien dort noch Hinweise in den Akten vorhanden. Sie sei in all den Jahren in keiner ärztlichen Behandlung gewesen, die Eltern hätten dies abgelehnt. Mit 16 Jahren habe sie wegen Magenbeschwerden ärztliche Hilfe in Anspruch genommen und jahrelang Lexontanil sowie andere Beruhigungsmittel verschrieben bekommen und eingenommen. Später habe sie massive Partnerschaftsprobleme erlebt, verbunden mit Ekel, Scham und Schuldgefühlen.

Der Beklagte holte eine Auskunft bei dem Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten G... R. B... vom 21.10.1993 ein. Der klinische Psychologe teilte mit, die Klägerin leide an starken Angstzuständen, wiederkehrenden depressiven Episoden und massiven Schuldgefühlen. Außerdem seien psychosomatische Beschwerden vor allem im Magen-Darm-Bereich diagnostiziert worden. Die Beklagte nahm des Weiteren eine ärztliche Bescheinigung von Frau Dr. K... vom 26.10.1993 zu den Akten. Danach leidet die Klägerin unter Essstörungen, Appetitlosigkeit, Ekelgefühlen, Übelkeit und Untergewicht. Die Klägerin wirke depressiv und verzweifelt. Sie gebe an, in der Kindheit von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein und bis heute hierunter zu leiden. Diagnostisch handelte es sich um ein psychosomatisches Syndrom mit depressiven Zügen.

Anlässlich eines Telefonats mit dem Versorgungsamt vom 26.02.1994 gab die Klägerin unter anderem an, sie wolle nicht, dass ihre Eltern zu den Vorwürfen gehört werden. Die Erinnerungen an den früheren sexuellen Missbrauch seien weitgehend verdrängt und würden bei Vernehmung der Eltern wieder stark aufleben und sie stark belasten.

Ermittlungsversuche des Beklagten (Anfragen bei der B... Ersatzkasse, bei der Stadtverwaltung P..., beim C...-Verband, dem Sozialdienst des D... Werkes) blieben erfolglos. Mit Schreiben vom 18.04.1997 teilte die Klägerin dem Versorgungsamt mit, es sei ihr nicht möglich, das Verfa...

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